Freispruch im Neuwiedenthal-Prozess: Schuld ist nicht bewiesen
Das Landgericht spricht die Angeklagten im Verfahren um die Massenschlägerei von Hamburg-Neuwiedenthal vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung frei.
HAMBURG taz | Die Massenschlägerei von Hamburg-Neuwiedenthal am 26. Juni 2010 entfachte erneut die bundesweite Diskussion über Strafverschärfung bei Gewalt gegen Polizisten. 30 Jugendliche aus Neuwiedenthaler hatten sich nach einem Polizeiübergriff auf einen "Wildpinkler", der mit dem Teleskop-Schlagstock geschlagen wurde, mit einer handvoll Polizisten geprügelt. Der Beamte Günter J. erlitt durch einen Fußtritt mehrere Schädelfrakturen am Auge und Amor S. wanderte als Hauptverdächtiger ein dreiviertel Jahr in Untersuchungshaft.
Am Freitag hat das Hamburger Landgericht Amor S. und den Mitangeklagten Avni A. nun nach 40 Verhandlungstagen vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung freigesprochen.
"Die Schuld ist nicht bewiesen", sagt die Vorsitzende Richterin Birgit Woitas. Im Verfahren habe es mit dem Zivilfahnder Jörg Sch. nur einen einzigen Tatzeugen gegeben, der zum Teil die Aussage verweigerte, so dass die Angaben von der Verteidigung nicht überprüft werden konnten. "Das reicht nicht aus", sagt Woitas. "Sch.s Angaben halten einer kritischer Glaubwürdigkeitsprüfung nicht stand."
Die Kammer 28 weist den Vorwurf der Nebenklage zurück, voreingenommen im Zweifel für die Angeklagten agiert zu haben: "Die Kammer war nicht von anfang an auf Freispruch programmiert - ganz sicher nicht", sagt Woitas. "Die Kammer ist auch nicht polizeikritisch eingestellt." In dem Verfahren habe es jedoch daran gekrankt, dass eingeleitete Ermittlungen am Abend der Tat nicht dokumentiert worden seien. "Das hat die Arbeit der Kammer erschwert", kritisiert die Richterin.
Eine "Besonderheit" sei zudem gewesen, dass sich der einzige Zeuge zuletzt auf sein Aussageverweigerungsrecht berufen habe. Schon bei nur einem Zeugen müsse das Gericht nach einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung von seinen Angaben überzeugt sein. In dem vorliegenden Fall bedarf es einer "noch intensiveren Prüfung," erläutert Woitas.
Jörg Sch. hatte angegeben, gesehen zu haben, dass Amor S. im Verlauf der Prügelei dem Polizisten Günter J. einen Fußtritt an den Kopf versetzt habe, während Eineinhalb-Zentner-Mann Avni A. den Polizisten Oliver P. zeitgleich mit einem Hechtsprung in den Rücken verletzt habe.
Zwar hätten drei Zivilfahnder eine Fahndung nach Amor S. in der Nacht bestätigt, die Angaben seien aber nicht überprüfbar, da die Ermittlungen nicht dokumentiert worden seien, bedauert das Gericht. Zudem deckten sich die Angaben von Sch. zum Tathergang nicht mit den Angaben der betroffenen und beteiligten Polizisten, die die Angeklagten nicht belasteten, sondern Amor S. deeskalierendes Verhalten attestiert hatten.
Sch.s Angaben hätten zudem "im Kern des Tatgeschehens keine Substanz gehabt", sagt Woitas, so dass ein Irrtum nicht ausgeschlossen werden könne. Sch. habe zwar objektiv nicht gelogen, es bestehe aber die Möglichkeit, dass sich "objektiv ein falsches Erinnerungsbild an die Vorgänge festgesetzt" habe. "Der Sachverhalt des Tatgeschehens ist ungeklärt geblieben", sagt Woitas, so dass die Angeklagten freizusprechen seien. Amor S. bekommt für die erlittene Untersuchungshaft eine Haftentschädigung.
Günter J.s Nebenklageanwalt, Walter Wellinghausen, kündigte Revision beim Bundesgerichtshof an. "Das Urteil wird aufgehoben", sagt Wellighausen. Die Verteidiger der Angeklagten Udo Jabob und Uwe Maeffert sprechen dem Gericht hingegen ihre Hochachtung aus. Die Kammer habe dem enormen öffentlichen Druck durch die Boulevardmedien und die Polizei standgehalten und nach der Beweislage entschieden, sagt Maeffert. "Wenn es sich nicht um Polizisten gehandelt hätte, wäre das Verfahren längt abgeschlossen gewesen."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“