: Frau leugnet die Jungs!
Jungskonferenz 1: Es gibt eine Jungenpädagogik. Mit zu 90 Prozent weiblichen Lehrkräften können wir lange auf ihre Umsetzung in Schulen warten
VON CHRISTIAN FÜLLER
Es sind unerhört viele Frauen da. Fast so viele, wie sich in Deutschlands Grundschulen tummeln, wo manchmal neun von zehn Lehrkräften weiblichen Geschlechts sind. Sie bekommen schon beim zweiten Referenten Anlass zu schlucken. „Wir haben die Jungen in der Vergangenheit sträflich vernachlässigt“, sagt der Mann am Pult.
Gut, frau ist auf einer Konferenz, die sich dem Schicksal der Jungs annimmt. Dennoch, so schonungslos hätte frau die Eröffnungsbilanz denn doch nicht erwartet. Unruhe, die ins Raunen geht. Denn jetzt fordert der Referent, reine Jungs-Leseecken einzurichten. In Buchhandlungen, Bibliotheken, ja sogar Schulen solle es Areale ausschließlich für junge Männer geben, räumlich getrennt von denen für Mädchen. Die Auswahl der Texte dort solle – er sagt es wirklich so – „ohne Rücksicht auf die Lesebedürfnisse von Mädchen erfolgen“.
Bierzeltstimmung brandet auf. Rufe brechen nach vorne, Empörung, Aufregung. Das ist man nicht gewohnt hier in der Berliner Landesvertretung Schleswig-Holsteins, wo sonst der diskursive Gleichmut des kühlen Nordens vorherrscht.
Der Mann, der so viel weibliche Empörung provoziert, heißt Stefan Wendel. Er ist Jugendbuchlektor des Thienemann Verlags. Er ist alles andere als ein Chauvi. I wo, sagt er, die vielen Frauen in der Literaturvermittlung, die machten das doch nicht absichtlich. Sie nähmen nur die unterschiedlichen Verkehrsformen, die variierenden Lesebedürfnisse, das andere Geschlecht als solches einfach nicht wahr. Unterdrückung von Jungs gebe es, wenn überhaupt, dann nur durch eine Art Nichtbeachtung. „Frauen gibt es in der Szene der Buchhändlerinnen, Lektorinnen und Lehrerinnen, so weit das Auge reicht.“ Wendel ist überzeugt: Sie sollten lernen, „wie Jungs ticken“.
Das anschwellende Gejammer darüber kriegt er umsonst. Was soll das Feindbild der Buchhändlerinnen, moniert eine Frau? Diese Polarisierung der Geschlechter sei nicht state of the art in der Schulpraxis, bemerkt eine andere. Männlein oder Weiblein, das gebe es anfangs gar nicht so eindeutig, weiß eine zu berichten, und referiert so etwas wie eine geschlechtsoffene Sozialisation, Marke: Lass die Kinder mal groß werden, die merken dann schon, welchen Geschlechts sie sind.
Was hat so ein Laborversuch in der Landesvertretung mit der Situation in der Schule zu tun? Viel, mehr, als uns lieb sein kann. Denn hier wird exemplarisch vorgeführt, wie die unbestrittene Majorität, die Frauen in Bildungseinrichtungen nun mal haben, mit Jungs im Prinzip umgeht. Sie weist sie zurecht, bringt sie zur Ruhe. Das ist gesellschaftlich anerkannt und nicht ganz falsch – in bestimmten Situationen. Was aber falsch ist, die Jungs per se zu rügen für ihre, zugegeben, häufig unartikulierte, oft grobe, ungeschlachte Männlichkeit. Das nämlich impliziert, Männlichkeit pauschal darzustellen als einen Fehler der Natur. „Du musst lernen mit deinen Y-chromosomalen Errata umzugehen“, so lautet dann die zerstörerische Botschaft an die Jungs.
Am besten sichtbar wird dies, wenn man die Begleiterscheinung männlicher Pubertät betrachtet. Jungs dieses Alters sind auf eine obszöne Art verbalradikal, ständig müssen sie von Schwänzen und Mösen usw. reden. Dies wird geradeheraus zensiert. „Ich möchte das nicht hören“, schnitt eine empörte Konferenzteilnehmerin beispielhaft Stefan Wendel das Wort ab. Dabei hatte der nur gesagt, Sexualität sollte für junge Männer auch ein literarisches Thema sein, das dürfe man nicht verleugnen. Auf der Konferenz indes war es wie in der Schule. Nur dass das sexistische (und dumme, logisch!) Gequatsche in der Schule Ausdruck jungmännischer Hilflosigkeit ist, das Platzieren des Ficken-Wortschatzes bei der Konferenz aber eine gezielte Provokation war. Die Literaturvermittlerinnen, gab Stefan Wendel kühl zurück, „wollen sich frei nach Pippi Langstrumpf die Welt erschaffen, wie sie sein soll, wie sie in der Wirklichkeit aber nicht ist“.
Längst gibt es intelligente Konzepte für eine Jungspädagogik. Dazu gehören unter anderem mehr männliche Lehrer, mehr Bewegungsfreiraum, Phasen geschlechtergetrennten Unterrichts. Bis dies allgemeine Praxis wird, darauf dürfen wir wohl lange warten.
Denn die Veranstaltung war nicht nur überfällig, sie war ja auch ein Skandal. Es dauerte nicht weniger als fünf Jahre, ehe eines der Kernprobleme der Schule auf die Agenda kam. Und nun das: Das überwiegend aus Frauen bestehende Fachpublikum nimmt das Thema nicht etwa an, es spielt es herunter. Eine Professorin etwa bezeichnete jene wenigen Männer, die sich für den Lehrerberuf interessieren, praktisch als Dummköpfe. Eine andere Teilnehmerin tat so, als sei die reflexive Koedukation zugunsten junger Männer, also die zeitweise und sehr bewusste Trennung der Geschlechter, ein regelrechter Schmarrn.
Das frechste Argument freilich lieferte eine Frau vom Podium herab. Männer einfach so als Benachteiligte hinzustellen, falle ihr nicht eben leicht. Schließlich nähmen die ausgewachsenen Exemplare des Geschlechts immer noch die Schlüsselpositionen in der Gesellschaft ein, verdienten prinzipiell mehr usw. usf. Die Frau hat Recht, keine Frage. Die Vorherrschaft des Mannes ist nicht gebrochen, von der Gleichberechtigung der Frau sind wir meilenweit entfernt. Nur fragt man sich, was dieses Argument in der Diskussion um die eklatante Benachteiligung von Jungs in der Schule verloren hat. Ein Verdacht drängt sich auf. Er lautet: Müssen hier etwa die Buben unter 15 Jahren büßen für die vielen Schweinereien, die ihre Geschlechtsgenossen über 25 begehen? Wenn dem so ist, dann können wir getrost von einem Geschlechterkampf in der Schule sprechen – einem, der mit ungleichen und unfairen Mitteln ausgetragen wird.