: Frankreich streikt - die Regierung staunt
Streiks im Öffentlichen Dienst gehen weiter / Es geht um höhere Löhne statt fortgesetzter Sparpolitik der sozialistischen Regierung / Gewerkschaften und Premier Rocard dem sozialen Konflikt nicht gewachsen / Was ist los in Frankreich? ■ Aus Paris Georg Blume
Unter dem höchsten Wolkenkratzer von Paris steht ein Postbeamter und streikt. Über ihm erhebt sich die gigantische Glasfront des „Tour Montparnasse“. Jacques schaut nicht empor. Er gleicht einem Clochard - unrasiertes Kinn, zerfetzter Regenmantel. Doch trägt er einen roten Schal, zinnoberrot. Das ist die Farbe der kommunistischen CGT-Gewerkschaft.
Die CGT macht wieder Schlagzeilen. Keine andere französische Gewerkschaft vermag das mehr. Heute, am 15.November, ist CGT-Aktionstag im ganzen Land. Überall laufen Streiks - wo genau, weiß niemand. Jacques weiß nur, warum: „Der Postbeamte wird schlecht bezahlt, und der Postdienst funktioniert schlecht.“
250 Millionen Briefe haben sich auf den Pariser Postverteilungsstellen angestaut. Der französische Unternehmerverband schreit „Sabotage“. Doch das läßt Jaques kalt: „Es gibt genug Geld für Lohnerhöhungen. Wir haben lange genug gewartet.“ Am Tour Montparnasse läuft der Poststreik schon seit drei Wochen.
Das Elend ist Jacques anzusehen: 23 Jahre lang Postverteilungsdienst, 23 Jahre die schweren 25kg-Postsäcke auf dem Bukkel. Sein Verdienst, knapp 2.000 Mark, reicht im teuren Paris nicht aus.
Fünf Jahre lang hat er Kaufkraftverluste hingenommen. Jetzt, denkt Jacques, muß es soweit sein. Was ist soweit? Ist die Krise endlich vorbei? Kann Frankreich den Gürtel wieder lockern? Wie ein Lauffeuer hat es sich im ganzen Land herumgesprochen: Das Wachstum ist da. 3,5 Prozent in diesem Jahr, mehr im nächsten, versprechen die Institute. Und noch mehr wissen die Franzosen: Auch der Staat ist wieder reich. Unverhoffte Steuereinnahmen in Milliardenhöhe sind ihm zugeflossen. Und schließlich meldet die Privatindustrie Profite in Rekordhöhe.
Das alles haben sich die Franzosen nicht zweimal erzählen lassen. In Lyon fährt seit 20 Tagen kein Bus und keine Straßenbahn mehr. Die Eisenbahner machen Warnstreiks. Täglich muß die staatliche Fluggesellschaft Air France ein bis zwei Dutzend Flüge absagen. In den Sozialämtern bleiben manchmal die Schalter geschlossen. Jetzt drohen auch die Lehrer mit dem Ausstand. Inzwischen haben sich die Postverteilungsämter der Provinz ihren Pariser Kollegen angeschlossen. Streik, Streik, Streik, überall, wo man nur hinschaut. Das dauert einmal Wochen, manchmal nur Stunden oder einen Tag. Zeitungen, Radio und Fernsehen wiederholen seit Tagen die gleiche Nachricht: „Im Öffentlichen Dienst bleibt die Situation verwirrend.“
In Frankreich spüren es erst wenige: Was als kühler, scheinbar vorübergehender Schauer mit dem Streik der französischen Krankenschwestern im Oktober begann, hat inzwischen einen sozialen Klimawechsel nach sich gezogen, wie ihn Frankreich seit der Verkündung der Sparpolitik unter Mitterrand nicht mehr erlebte.
Die französischen Sozialisten staunen: Es sind die „alten Muffler“ von der CGT, Leute wie Jacques, von denen man schon dachte, sie seien in der Versenkung verschwunden, die sich nun zu Wort melden. Sie haben wieder etwas zu sagen.
Allmählich gerät die Regierung ins Schleudern. Seit zwei Wochen ist Premierminister Rocard von der Bildfläche verschwunden. Seine letzte Äußerung zu den sozialen Konflikten liegt einen Monat zurück. Vergangene Woche wagte sich Postminister Quiles vor und verkündete das Ende des Streiks. Doch Post kam weiter keine.
Die Gewerkschaften, von der CGT abgesehen, stehen nicht besser da. Kaum haben sie mit der Regierung ein Verhandlungsprotokoll unterschrieben, geht der Streik an der Basis von neuem los. Dann zieht ein Regionalverband sein Einverständnis zurück, es kommt zum offenen Konflikt mit der Zentrale - mittlerweile schweigt der Generalsekretär der sozialistisch-orientierten CFDT-Gewerkschaft genauso stille wie der sozialistische Regierungschef. Was ist los in Frankreich?
„Ich lebe in der Wirklichkeit, ich arbeite, ich brauche auf jeden Tag eine neue Antwort und finde sie nicht.“ Das sagt Jacques, der CGT-Mann. „Merde!“, flucht er. „Ich will den besten Postdienst der Welt. Ich will, daß alle Europäer Arbeit haben.“
Da können die Sozialisten nur staunen: Die Versprechen, die sie ihren Wählern in diesem Jahr nicht geben wollten, formulieren die Franzosen heute selbst. Jeder für sich, in seiner Stadt, in seinem Amt, in seinem Dienst. König Mitterrand reicht nicht - ohne Versprechen kann keine Regierung regieren. Die Sozialisten spüren das langsam.
„Die Sparpolitik muß neuer Vorstellungskraft weichen“, forderte der ehemalige Premierminister und jetzige Sozialistenchef Pierre Mauroy am Wochenende vor der Parteiversammlung. Ex-Parteiführer Lionel Jospin, heute Erziehungsminister, warnte, daß Lohnpolitik im augenblicklichen politischen Klima nicht mehr ausreiche. Was aber wirklich zu tun sei, davon sprachen sie beide nicht. Ihre Blicke richten sich, nicht ohne Schadenfreude, auf einen Mann: Michel Rocard.
Ein Jahrzehnt lang predigte der den Sozialisten Realismus, lachte über ihre alten Utopien - nun demonstriert seine gegenwärtige Hilflosigkeit, daß mit Pragmatismus allein niemand regieren kann. Doch woher neue Rezepte nehmen? Den Sozialisten fehlen neue Ideen, die Opposition ist niedergeschlagen und die Gewerkschaften haben nach fünf Jahren Sparpolitik ihre Glaubwürdigkeit verloren. Selbst die CGT läuft den Ereignissen hinterher, kann mitstreiken, aber nicht kontrollieren. Rocard ist ein einsamer Mann, die Streiks werden weitergehen, und Jacques hat sich vorgenommen, die „intellektuelle Bilanz der Ereignisse“ erst später zu ziehen.
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