■ Frankreich: Heute tagt der nationale Beschäftigungsgipfel: Schwierige Zeiten für Jospin
Daß Frankreich mit zwölf Millionen registrierten Arbeitslosen, darunter dramatisch vielen „Einsteigern“ unter 25 Jahren, dringend beschäftigungspolitisch aktiv werden mußte, war allen Beteiligten seit Jahren klar. Bloß darüber, was zu tun sei, stritten sich die Geister.
Bei den vorgezogenen Neuwahlen im Mai/Juni spielten die Beschäftigungsvorschläge der politischen Konkurrenten eine wahlentscheidende Rolle. Gegen den liberalen Ansatz der Konservativen schlugen Sozialisten, Kommunisten und Grüne verstärkt staatliche Eingriffe in den Arbeitsmarkt vor. Der spätere Regierungschef Lionel Jospin wollte 700.000 Arbeitsplätze – davon die Hälfte im öffentlichen Dienst – schaffen, die Arbeitszeit um zehn Prozent auf eine gesetzliche 35-Stunden-Woche reduzieren und dafür den vollen Lohnausgleich zahlen. Das weckte Hoffnungen und zog selbst Kritiker in seinen Bann.
Als die Regierung im Sommer 350.000 Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst bewilligte, stimmte ein Teil der konservativen Opposition nicht dagegen. Zwar widersprach der „Wirtschaftsdirigismus“ offiziell ihrem Glauben an die „Selbstheilungskräfte des Marktes“, doch wollten sie einem Versuch, der große Hoffnungen weckte, nicht im Wege stehen – schon gar nicht kurz vor den Regionalwahlen im Frühjahr des nächsten Jahres. Umgehend beantragten zahlreiche konservative Bürgermeister die auf fünf Jahre befristeten Hilfsjobs für ihre Gemeinden. Und obwohl mit den Minderbezahlten, nur befristet unter Vertrag genommenen und nicht mit Beamtenrechten ausgestatteten 350.000 Mitarbeitern die Deregulierung in den öffentlichen Dienst einzieht, stieß die Initiative auch auf Gewerkschaftsseite nur auf äußerst verhaltene Kritik.
Heute steht Jospin die zweite arbeitsmarktpolitische Bewährungsprobe bevor. Bei dem „Beschäftigungsgipfel“, zu dem die Regierung die großen Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände geladen hat, sollen die Probleme der Privatwirtschaft angegangen werden – von der Arbeitszeitverkürzung über den Lohnausgleich bis zur zweiten Hälfte der von Jospin versprochenen Arbeitsplätze. Ein Kompromiß, der es allen recht machen könnte, zeichnet sich dieses Mal nicht ab. Strittig ist bei der Beschäftigungskonferenz so gut wie alles.
Die linken Kräfte (KPF, Grüne und die Gewerkschaften CGT und FO) wollen ein Rahmengesetz, das für die gesamte Privatwirtschaft festlegt, wann die 35-Stunden-Woche eingeführt wird, und das den vollen Lohnausgleich garantieren soll. Ein großer Teil der Sozialisten und die gemäßigte Gewerkschaft CFDT wollen kein Rahmengesetz – oder zumindest nicht sofort – und halten einen vollen Lohnausgleich, wie Jospin sagt, für „unökonomisch“. Die Konservativen und die Arbeitgeber schließlich wollen grundsätzlich kein Gesetz, das die Wochenarbeitszeit festlegt, wollen schon gar keinen Lohnausgleich zahlen und verlangen Verhandlungsfreiheit auf Unternehmensebene.
Die Gräben verlaufen quer durch alle Lager. In der Regierung opponiert die Arbeitsministerin (für ein Rahmengesetz) gegen den Wirtschaftsminister. Die Gewerkschaften haben vor der heutigen Konferenz keine gemeinsame Strategie zustande gebracht. Zusätzlich ist ihnen der Europäische Gewerkschaftsbund in den Rücken gefallen, der eine Wochenarbeitszeit für „überholt“ hält und statt dessen
eine Jahresarbeitszeit regeln will. Und auf Arbeitgeberseite haben einzelne patrons längst in ihren Unternehmen bewiesen, daß Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich sehr wohl wirtschaftlich sein kann.
Angesichts derartiger Divergenzen ist die angekündigte Revolution auf dem französischen Arbeitsmarkt unwahrscheinlich. Völlig ausgeschlossen scheint hingegen eine gemeinsame europäische Beschäftigungspolitik, die Jospin auf dem von ihm angeregten EU-Beschäftigungsgipfel im November vorantreiben will. Die allerheftigsten Kritiker der Pariser Beschäftigungspolitik sitzen schließlich in Bonn und London. Dorothea Hahn
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