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■ François Mitterrand besucht VietnamEin historischer Moment

Das Attribut „historisch“ leidet an seiner inflationären Verwendung. Als jedoch der französische Präsident François Mitterrand gestern vietnamesischen Boden betrat, war dies ohne Zweifel ein historischer Moment. Erstmals, seit Ho Chi Minh am 2.September 1945 die Unabhängigkeit Vietnams proklamierte und ein Jahr später zum bewaffneten Kampf gegen die französische Kolonialmacht aufrief, besucht ein französischer Präsident den einstigen Sitz des Generalgouverneurs der Union Indochinoise; erstmals seit dem Ende des Vietnamkrieges begibt sich ein westlicher Staatschef auf die ehemaligen Schlachtfelder des letzten großen Showdowns zwischen den kommunistischen und kapitalistischen Supermächten. Mitterrand fällt die Aufgabe einer Versöhnung zu, die ebenso überfällig wie moralisch geboten ist.

Vietnam hat seine Siege sehr teuer bezahlen müssen. Nachdem die Vietminh unter Ho Chi Minh Anfang 1954 der französischen Kolonialmacht in Dien Bien Phu – das Mitterrand heute besuchen wird – eine vernichtende Niederlage beibrachten, wurde das Land gemäß des Genfer Abkommens geteilt. Bald darauf rüsteten die USA den Süden auf, um sich schließlich nach der „Domino-Theorie“ selbst in einen sinnlosen Krieg gegen die globale kommunistische Expansion zu verstricken. Als die Kommunisten 1975 Saigon eroberten, waren sie sofort an einer schnellen Normalisierung der Beziehungen zu den USA und dem gesamten Westen interessiert. Die Amerikaner zeigten sich als schlechter Verlierer und verhängten gegen Vietnam und Kambodscha ein Embargo, das den Wiederaufbau des verwüsteten Landes verunmöglichte. Diese Isolation findet mit Mitterrands Besuch ihr übererfällige Ende.

Frankreich hatte bereits als erstes Land der EG seine Entwicklungshilfe wieder aufgenommen. Jetzt stünde es langsam auch der Bundesrepublik gut an – deren Repräsentanten in den sechziger Jahren behaupteten, mit Napalm und Agent Orange werde in Vietnam die Freiheit West-Berlins verteidigt – endlich einen nennenswerten Beitrag zum Wiederaufbau des Landes zu leisten. Vor allen anderen ist es jedoch an den USA, ihre rachsüchtigen Sanktionen gegen den einstigen Feind aufzuheben. Die Normalisierung der Beziehungen zu Vietnam ist eine der Fragen, an denen sich zeigen wird, wie groß der Wille und die Fähigkeit zur Erneuerung bei Bill Clinton wirklich sind. Michael Sontheimer

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