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Fragwürdige Prognosen für WahlkreiseWürfeln ginge auch

Warum Vorhersagen für Bundestagswahlkreise mit Vorsicht zu genießen sind. Vertrauen kann man ihnen nur dort, wo ohnehin immer dasselbe gewählt wird.

Würfelbecher: Spezialgerät zum Prognostizieren von Wahlergebnissen Foto: Michael Klindwort/imago

Berlin taz | Eine Prognose gefällig, wer die meisten Erststimmen im Bundestagswahlkreis Weilheim holen wird? Kein Problem: Es wird der CSUler Alexander Dobrindt sein. Wer macht das Rennen im Wahlkreis Rottweil-Tuttlingen? Selbstverständlich die CDUlerin Maria-Lena Weiss. Wer Duisburg II gewinnen wird? Der SPDler Mahmut Özdemir. Woher die taz das jetzt schon weiß?

Nun ja, es ließe sich jetzt auf Webseiten wie wahlkreisprognose.de oder zweitstimme.org verweisen, die vorgeben, prognostizieren zu können, wer bei der Bundestagswahl am Sonntag in einem Wahlkreis die Nase vorne hat. Oder auf das Meinungsforschungsinstitut YouGov, das behauptet, zumindest aktuelle Stimmungslagen in Wahlkreisen angeben zu können. Aber es ist viel einfacher: In den drei genannten Wahlkreisen hat seit Gründung der Bundesrepublik immer mit Abstand der Kandidat oder die Kandidatin der gleichen Partei gewonnen. Und das wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch diesmal so sein.

Schwieriger wird es hingegen in Wahlkreisen, die nicht so eindeutig festgelegt sind. Da gewinnen Projekte wie wahlkreisprognose.de oder zweitstimme.org, aber auch YouGov an Attraktivität. Zeitungen greifen vermeintlich nahende Überraschungen an diesem oder jenem Ort auf. Passende Vorhersagen machen sich Wahl­kämp­fe­r:in­nen zunutze. Das Problem: So wirklich seriös ist das alles nicht. „FDP-Chef vor Direktmandat“, behauptete beispielsweise im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 wahlkreisprognose.de. Letztlich landete Christian Lindner im Rheinisch-Bergischen Kreis mit 16,8 Prozent abgeschlagen auf Platz 4 – wobei er sich gewiss über ein solches Ergebnis am Sonntag sehr freuen würde.

Der große Haken aller Erststimmenprognosen: Sie beruhen nicht auf speziellen repräsentativen Umfragen in dem jeweiligen Wahlkreis. Denn das wäre sehr teuer und aufwendig. Schließlich gibt es 299 Wahlkreise. Um realitätstaugliche Angaben zu machen, müssten regelmäßig über einen längeren Zeitraum mehrere hundert Menschen pro Wahlkreis befragt werden, zusammengezählt müssten deutlich mehr als 100.000 Menschen befragt werden.

Mathematisches Spiel

Stattdessen werden bundesweite repräsentative Umfragen benutzt, die dann runtergerechnet werden. Wobei zweitstimme.org noch nicht einmal eigene Erhebungen macht, sondern sich via Wahlrecht.de bei den Umfrageinstituten bedient. Bei YouGov basiert die Schätzung der Ergebnisse auf Wahlkreis­ebene auf einem Modell mit Befragungsdaten von 9.322 Wahlberechtigten aus Deutschland. Das sind statistisch 31 Menschen pro Wahlkreis.

Der Malus, dass die Stichprobe für den einzelnen Wahlkreis viel zu gering ist, kann leider nicht dadurch ausgeglichen werden, dass alle möglichen Variablen miteingerechnet werden – von den Ergebnissen früherer Bundestags,- Landtags- und Europawahlen bis zur strukturellen Zusammensetzung eines Wahlkreises unter anderem nach Alter, Geschlecht und Beschäftigungsstatus. Das ist zwar grundsätzlich richtig, reicht aber nicht für valide Angaben aus. Die Behauptung, dass dabei eine „wissenschaftliche Vorhersage zur Bundestagswahl“ herauskommt, wie die Po­li­tik­wis­sen­schaft­le­r:in­nen von zweitstimme.org schreiben, ist jedenfalls eher Unfug.

Jenseits der ohnehin eindeutigen Wahlkreise könnten die Prognosen der verschiedenen Anbieter denn auch einfach gewürfelt sein. Ein Beispiel dafür ist Berlin-Neukölln, das die letzten drei Male von einem SPD-Kandidaten gewonnen wurde. YouGov geht davon aus, dass das knapp auch so bleibt und Hakan Demir seinen Bundestags­wahlkreis verteidigen kann, zweitstimme.org sieht diesmal die CDU-Kandidatin Ottilie Klein in Front, während die Linke freudestrahlend verkündet: „Laut Wahlkreisprognose.de liegen wir vorne“, womit sie ihren Kandidaten Ferat Koçak meint. Jetzt müsste nur noch der Grüne Andreas Audretsch gewinnen – und alle würden danebenliegen. Aber hier gibt die taz lieber keine Prognose ab.

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2 Kommentare

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  • Ich bin für:



    - 200 Abgeordnete über Wahlkreise



    - 200 Abgeordnete über Parteilisten



    - 200 Abgeordnete über Losverfahren

    Nicht eine/r mehr!!! Es braucht keine "Ausgleichsmandate" oder sonst was. Per Losverfahren bekommen wir 1/3 "normale" Bürger ins Parlament, die auch mal aus der Realität erzählen/denken können.

    Dazu: eine Amtszeitbegrenzung von 8 oder max. 12 Jahre!!! Dann haben wir weniger von den Leuten, die denken, dass Berufspolitiker/in die einzige Berufsoption sind.

    • @DrSchlaumeierxy:

      Ausgleichmandate gibt es ab dieser Wahl sowieso nicht mehr. Und ganz abgesehen von der Frage, ob es eine gute Idee wäre, ein Drittel geloste ins Parlament zu holen – wo wollen Sie die Verfassungsändernde Mehrheit hernehmen? Art. 38 (1) GG ist eindeutig.