piwik no script img

■ Fragen des mexikanischen Schriftstellers Carlos Fuentes zur Niederschlagung des zapatistischen Aufstands in ChiapasWarum, Ernesto Zedillo?

Hat Ernesto Zedillo etwa den Artikel in der Zeitschrift Time gelesen, in dem ganz offen von einem „zerflossenen“ Präsidenten die Rede war? Dachte er, daß viel eher auf die Politik denn auf die Philosophie der Satz von Bischof Berkeley: „Das Sein ist Wahrnehmung“ zutrifft, den dieser vor mehr als zwei Jahrhunderten formulierte? War er es leid, als schwacher und politisch unerfahrener Präsident wahrgenommen zu werden?

Zedillo war geschwächt durch die andauernde Abwertung des Peso, die Kapitalflucht, das Verdampfen der Reserven, die Bedrohung durch Zahlungsmoratorien und Bankrotterklärungen, die Kredite, die mal mit und mal ohne Konditionen in Aussicht gestellt wurden. Aber hatte er denn nicht vier gute und eine schlechte Option? Wäre es denn nicht die erste gute Möglichkeit gewesen, dieses Kabinett voller himmelschreiender Mittelmäßigkeit aufzulösen und durch ein wirklich kompetentes zu ersetzen, das in der Lage ist, mit einer Notsituation umzugehen?

War es vielleicht nicht die zweite gute Option, die Fälle Colosio, des Generals Posadas und Ruiz Massieu zu ihrer gerechten Aufklärung zu bringen – drei Morde, die das öffentliche Bewußtsein und das Prestige des Justizapparates überschatten, den Zedillo doch reformieren will? War denn nicht die dritte gute Option, in Richtung einer mexikanischen Demokratie voranzuschreiten? Und war nicht vierte Option, die Feuerpause in Chiapas aufrechtzuerhalten, gewappnet mit Geduld und nochmals Geduld, wohl wissend, daß nämlich ein Militäreinsatz in Chiapas nicht die Gewalt beenden, sondern verstärken würde, dort und im ganzen Land?

Warum aber hat Ernesto Zedillo dann die fünfte und allerschlechteste seiner Optionen gewählt: den Waffenstillstand in Chiapas zu brechen? Weil das am einfachsten schien, um das Negativimage seiner präsidialen Schwäche zu verscheuchen? Auch wenn er damit das Risiko einging, nun schwächer denn je zuvor zu erscheinen, eine Geisel der Armee, der nationalen Falken, der internationalen Haie und sogar der nordamerikanischen Regierung? Wie soll man jetzt wissen, wer wen beherrscht: der Präsident die Armee oder die Armee den Präsidenten?

Warum mangelte es ihm schließlich an Geduld, Phantasie und Bereitschaft – gerade gegenüber der maximalistischen Rhetorik und den publikumswirksamen Unverschämtheiten des Subcomandante Marcos? Hätte man denn nicht eher mit aufständischen Vermummten in einer katholischen Kirche verhandeln sollen – in der Hoffnung, es dann nicht mehr mit jenen offiziellen Vermummten in der Kirche der PRI zu tun zu haben? Und warum erlaubt sich eine Regierung, die vorgibt, an der Reform und Effizienz des Justizapparates interessiert zu sein, das öffentliche Spektakel eines Bundesstaatsanwaltes, der – zusätzlich zum Fund eines jämmerlichen Waffenarsenals – sogenannte Beweise der „Subversion“ vorführt: Bücher, Zeitschriften, Artikel, Exemplare von Time und New York Times?

Ist dieses Spektakel, das der heiligen Inquisition würdig ist, der Auftakt zur ideologischen Fahndung, zur Verteufelung aller Heterogenität, sei sie nun politischer, intellektueller oder sexueller Art? Beginnt nun bei uns eine Periode des schmutzigen Krieges nach argentinischem Vorbild? Welche Garantien haben die Bürger, die Zeitungen und Zeitschriften, die Universitäten und Forschungszentren und vor allem die Individuen und ihre Familien, wenn sich ein Klima der Verfolgung ausbreitet, in dem all die politischen Steinzeitmenschen des Landes sich vom Herrn Präsidenten autorisiert fühlen, zur Verteidigung bedrohter Institutionen vorzugehen – gegen Linke, Atheisten, Homosexuelle, Aidskranke, Frauen, die das Recht auf Abtreibung verlangen, kurz und gut: gegen „Anormale“?

Haben wir denn in unserer Zeit nicht oft genug gesehen, wie diese dunklen Abgründe, sei es als Bestandteil einer wohlüberlegten Politik oder als Ergebnis einer offiziellen Nachlässigkeit oder Schwäche, von den Falken schnellstens genutzt werden? Bis sie zu Weltmeistern einer alle anderen ausschließenden „Freiheit“ werden, weil sie nämlich die privilegierten Interpreten des präsidialen Denkens sind? Eröffnet denn Zedillo nicht gerade diese Perspektive, wenn er die Führung der EZLN als „nicht populär, nicht indianisch und nicht chiapanekisch“ verteufelt? Sind sie denn etwa keine Mexikaner? Hätte denn Simón Bolivar seine Identität als venezolanischer Aristokrat abstreifen sollen, um die peruanischen Sklaven zu befreien? Hätte Che Guevara es unterlassen sollen, in Kuba zu kämpfen, weil er Argentinier war? Hatte der Priester Hidalgo, immerhin Leser von Rousseaus Schriften, irgend etwas gemein mit den ungebildetenen Haufen in den mexikanischen Unabhängigkeitskriegen?

Wann genau wurden die zapatistischen Führer, die es wert waren, daß man sich mit ihnen zu Verhandlungen an einen Tisch setzte, zu Verbrechern, die nun von der Regierung vernichtet werden sollen? Stimmen die Berichte über Massenhinrichtungen in Chiapas, die Aussagen über Folter von Zapatisten-Frauen, aus denen die Geständnisse mit Drohungen und Elektroschocks herausgepreßt wurden? Und wer sagt uns, daß nach einer Niederschlagung des zapatistischen Aufstands die jahrhundertealten Probleme von Chiapas wirklich behoben werden? Wären diese Probleme denn überhaupt in unserem Bewußtsein ohne Marcos und die EZLN? Wird Chiapas ohne Marcos wieder in die Hände von unfähigen und korrupten Gouverneuren fallen? Werden die uralten Forderungen der Region wieder vergessen werden, wird all dies erneut in Verzweiflung und Unrecht abgleiten?

Warum stempelt man die aufständischen Zapatisten als Verbrecher ab und behandelt die Fincabesitzer, die Viehzüchter, Holzfäller, die Großgrundbesitzer als schamhafte Jungfrauen? Wird dieser Krieg, den die Regierung wiederangefangen hat, den Status quo ante in Chiapas wiederherstellen? Wird es eine chirurgische Operation sein, bei der die Stimmen des Protestes und der Gerechtigkeit vom rechthaberischen Chor der Staatsräson übertönt werden, von jenen finanziellen Sachzwängen und anderen Vorwänden für das ewig währende Unrecht?

Oder wird Chiapas zum Schauplatz eines langen Krieges, ein mexikanisches Vietnam, ein Tschetschenien, das es nicht wagt, sich selbst beim Namen zu nennen, ein separatistischer Schatten, den die zentralistische Ungeduld und Blindheit über die Zukunft Mexikos werfen?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen