Fotoband zur Post-Apartheid in Südafrika: Die Frau, die ihre Zwillinge stillte
Reiner Leist dokumentiert in seinem neuen Bildband den Wandel in Südafrika. Ein Follow-up, 20 Jahre nach dem Ende der Rassentrennung.
Die Anordnung der Fotografien ist auffällig. Das erste Bild, eine Farbaufnahme, zeigt einen jungen Afrikaner in ärmlicher Kleidung, der an einer Verkehrsinsel wartet. Das nächste Bild, ein Porträt, ein schwarz-weißes Querformat, setzt nahtlos am rechten Seitenrand an und wird dann ein kurzes Stück über den Falz hinweg auf die linke Seite gedruckt.
Schlägt man die Seite um, erkennt man, dass es auch auf der nächsten Seite ein kleines Stück weitergedruckt wurde. Dann folgt ein Textblock, und nun ist es ein farbiges Querformat, das am rechten Seitenrand ansetzt und über die Knickkante nach links läuft bis kurz vor den Textblock. Das farbige Porträt freilich setzt sich nicht auf der nächsten Seite fort.
Die Aufmachung des Bildbandes „Another Country. South Africa: New Portraits“ erklärt schon ein wenig die Geschichte des Buches und die des Künstlers Reiner Leist. Sie liegt im Fortwirken der Schwarz-Weiß-Aufnahmen; in ihrer Aufforderung, ein großartiges Projekt noch einmal aufzunehmen und es in neuen Farbaufnahmen zu beenden.
1988 war Reiner Leist, er studierte noch an der Akademie der Künste in München, nach Südafrika gereist, eine Erfahrung, die bei ihm den Plan einer besonderen Dokumentation reifen ließ. Er wollte die Menschen fotografieren, die er getroffen hatte, und er wollte ihre Sicht auf das Land im Umbruch im Gespräch aufzeichnen.
Die Mutter der Zwillinge, wieder gefunden
Also machte sich der Zeichner daran, zu fotografieren und die Menschen kennenzulernen, die dann in seinem 1993 veröffentlichten Band „South Africa: Blue Portraits“ zu Wort kamen: gewöhnliche Menschen wie Denis Brookstein, ein Museumswächter in der Johannesburg Art Gallery, oder ein prominenter Kirchenmann wie der Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu.
Das Buch, das kurz vor den Parlamentswahlen 1994 erschien, bei denen die schwarze Bevölkerungsmehrheit erstmals stimmberechtigt war, stieß auf große Zustimmung. Das Projekt war für Reiner Leist ein Erfolg und abgeschlossen. Dass er es jetzt, rund zwanzig Jahre danach, noch einmal aufnehmen und noch einmal nachfragen konnte, was aus den Menschen wurde, die er getroffen hatte und die ihm ihre Sicht der Dinge geschildert hatten, ist ein Glücksfall.
Eine der beeindruckendsten Aufnahmen der Blue Portraits war das von Glory Badirileng Maebela, die ihre Zwillinge stillte. Als Reiner Leist sie wieder ausfindig macht, lebt sie mit ihrem Sohn auf dem Land in der Nähe von Matibidi, während die Tochter in Mpumalanga die Universität besucht und dort bei ihrem Vater lebt. Der Sohn hat das Aufnahmeexamen nicht geschafft und der Familie fehlt das Geld für seinen Collegebesuch.
Bildungspolitik nach der Apartheid
Die Tochter ist erfolgreicher, allerdings berichtet sie, dass sie an Krampfanfällen leidet und daher die Öffentlichkeit scheut. Wenn sie über ihr Marketing- und Kommunikationsstudium spricht, wird sie lebhaft und berichtet von ihrer Kampagne zu Teenager-Schwangerschaften, für sie ein großes Problem des heutigen Afrikas. Bildung und Erziehung sieht auch einer der Prominenten im Buch, der Fotograf David Goldblatt, als den kritischen und entscheidenden Punkt im Südafrika nach der Apartheid.
Zu seinem Bedauern hat aber die Erziehung und Ausbildung der jungen Leute keine Priorität für die ANC-geführte Regierung. Die Leute sind heute genauso ungebildet wie zu Apartheidzeiten. Das Buch stützt seine Kritik. Dort wo es Chancen auf Bildung gab, wurden die Hoffnungen wahr und die Töchter der Hausangestellten Lizzi Mangena sind nun Rechtsanwälte oder Rechnungsprüfer in einem großen Konzern. Dort wo Bildungschance nicht vorhanden oder nicht wahrgenommen wurden, gelingt den Protagonisten keine rechte Entwicklung.
Wer sich seine Wohnung nicht mehr leisten kann, landet nicht immer am Stadtrand – aber meist in einem anderen Leben. Was passiert, wenn Menschen ihr Viertel verlassen müssen? Und was bringt die Mietpreisbremse? Die Titelgeschichte "Wo die Verdrängten heute wohnen" lesen Sie in der taz.am wochenende vom 30./31. Mai 2015. Außerdem: Im bayerischen Elmau treffen sich sieben Staats- und Regierungschefs, die gern in der Welt den Ton angeben. Soll man gegen G7 protestieren? Und: Dirk van Gunsteren überträgt die großen amerikanischen Romanciers ins Deutsche. Ein Gespräch über Thomas Pynchons Männerfantasien und über Romane, die Geschichtsbücher sind. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Aber Entwicklung ist auch eine Frage der Zeit. Dafür ist Reiner Leist selbst der Beleg. Seine Farbaufnahmen, das wird im Band deutlich, erreichen lange nicht die Eindringlichkeit der alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Man könnte sagen, er sei kein Farbfotograf. Man kann aber auch vermuten, dass Zeitdruck der Grund des sichtbaren Leistungsabfalls ist. Als Student in den 1990er Jahren nahm er sich sechs Jahre Zeit für sein Projekt der Blue Portraits. Diesen notwendigen Luxus gibt es zwanzig Jahre später nicht mehr.