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Archiv-Artikel

Fortschritt der Familie

Es waren nicht nur ideologische Einwände. Der Philosoph André Gorz zweifelte an der Ehe als „bourgeoiser Institution“ auch deshalb: „Was beweist uns, dass unser Pakt fürs Leben in zehn oder zwanzig Jahren noch dem Wunsch derer entsprechen wird, die wir dann geworden sind?“, sagte er Ende der 1940er-Jahre zu seiner zukünftigen Frau Dorine, hinterlassen in „Brief an D. – Geschichte einer Liebe“.Auszusprechen, dass die Beziehung vielleicht nicht ewig halten wird, dass die Möglichkeit des Scheiterns besteht, ist heute nicht mehr außergewöhnlich. Das stellt auch Reinhard Sieder fest: Mittlerweile werde im Augenblick der Liebe auch eine mögliche Trennung einbezogen, ebenso nehme die Angst zu, sich zu verlieben, schreibt der Sozialhistoriker in „Patchworks“. Wie kam es dazu? Wie wandelten sich die Vorstellungen von Liebe, von Familie und Paarbeziehung? Was wurde aus der „Illusion vom dauerhaften und allseits glücklichen Eheleben“? Und folgt darauf nun die „Illusion der glücklichen Trennung“?Es ist der „Familienmythos“, den Sieder als Kern allen Übels beschreibt – Mann, Frau, Kinder, einander liebend, unter einem Dach lebend: Dieser Maßstab verschweige nicht nur, dass die Sehnsucht nach Intimität, nach Geborgenheit und Gemeinsamkeit in der Realität auf Alltag trifft, auf Hausarbeit, sexuelles Miteinander, Elternschaft, auf gesellschaftliches Umfeld. Der Mythos setzt demnach weiterhin andere Möglichkeiten des Zusammenlebens schlicht herab.Ausgeschlossen können sie allerdings nicht länger werden: Das Patriarchat – der Mann als starker, schützender Ernährer, die Frau als Umsorgerin von ebendiesem Mann und ihren Kindern – bricht bekanntermaßen auf. Auch wenn es, wie Sieder erwähnt, mitunter weiterhin herbeigesehnt wird – von beiden Seiten übrigens. Trennung und Scheidung gibt es mittlerweile in allen Milieus, und oft sind es die Frauen, die diese initiieren.Es zählt zu den besten Momenten der Lektüre, wenn Sieder zeigt, wie diese Tatsache die Sicht von Familienforschern änderte. Zwangsläufig mussten die Experten ihren Ausgangspunkt überdenken: Plötzlich gilt Scheidung nicht länger ausschließlich als Bruch der Normalität – eine Sicht, die außerdem die Behauptung hervorbrachte, dass es Kindern folglich an Ordnung und Stabilität fehle, gleich ob sie anschließend bei nur einem Elternteil weiterlebten oder in einer oder zwei Folgefamilien. Zufall, dass auf einer der letzten Seiten der Verlag mit dem Buch „Kinder wollen keine Scheidung“ wirbt, mit dem Text: „Eltern, die sich scheiden lassen, tun dies letztlich immer auf Kosten und zu Lasten ihrer Kinder, ob sie dies wollen oder nicht. Sie sollten dies bedenken, bevor sie ihre Entscheidung treffen.“ Wie Sieder zeigt, ist es erst wenige Jahre her, dass die Forscher damit begannen, fortan nicht ausschließlich die erste Familie als Maß der Dinge zu nehmen – und damit die ihr folgenden Familien abzuwerten. Manche zogen sogar in Betracht, dass Kinder nicht nur keinen Schaden nehmen müssen durch eine Trennung, sondern sogar davon profitieren können: In zwei Haushalten lässt sich mitunter mehr lernen als in einem. Von selbst ergibt sich aber kein „Trennungsglück“, so viel steht fest, und Sieder analysiert das auch anhand von sechs Fallbeispielen – so wie eben auch „Beziehungsglück“ nicht vom Himmel fällt. Das wusste auch Dorine, die dies in ihre Antwort auf André Gorz’ Zweifel hineinpackte: „Die Herstellung eurer Gemeinsamkeit ist euer gemeinsames Projekt, und ihr werdet es je nach den wechselnden Situationen immer wieder von neuem bestätigen, anpassen, neu ausrichten. Wir werden das sein, was wir zusammen tun werden.“ CHRISTINE ZEINER

Reinhard Sieder: „Patchworks – das Familienleben getrennter Eltern und ihrer Kinder“. Klett-Cotta, Stuttgart 2008, 409 Seiten, 29,50 Euro