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Archiv-Artikel

Fortdauernde Missverständnisse

betr.: „Nur glücklich zu leben ist unvorstellbar“, Interview mit Alain Ehrenberg, taz-kultur vom 14. 7. 08

Alain Ehrenberg beantwortet die Frage, ob die Depression die typische Pathologie des demokratischen Menschen sei, ob also Depression die notwendige Kehrseite des Lebens in Demokratie sei, mit einem klaren „Ja“. Er spricht von einer Gesellschaft, nämlich der sogenannten entwickelten Gesellschaft, für die der Wert individueller Autonomie zentral ist, und er meint, man müsse die Frage stellen, „unter welchen Bedingungen die Menschen überhaupt zum autonomen Handeln fähig sind“.

Als jemand, der seit dreiundzwanzig Jahren unter afrikanischen Menschen lebt und arbeitet, also als jemand, der aus einer „Erlebnisgesellschaft“ des Nordens in eine „Überlebensgesellschaft“ des Südens kam, nehme ich Ehrenbergs Feststellung als einen entscheidenden Hinweis auf das fortdauernde Missverständnis bei Versuchen nördlicher Medien, die katastrophale politische Entwicklung etwa in Simbabwe zu erklären. Dort, so wird auch in der taz unterstellt, müsse nur ein Diktator von der Bühne verschwinden, dann würden bald wieder demokratische Spielregeln gelten.

Ich möchte auf eine in diesem Zusammenhang wesentliche Nebenbemerkung Ehrenbergs verweisen: „Gesellschaften, in denen andere Werte als die Autonomie im Vordergrund stehen, haben andere Sorgen.“ Viele afrikanische Gesellschaften, darunter jene in Simbabwe, haben andere Sorgen. Im Mittelpunkt ihrer Überlebensanstrengung steht dabei nicht das Lebensziel „individuelle Autonomie“. Erziehungsziel, schon bei der Organisierung familiären Überlebens, ist vielmehr die Einpassung in ein System, das nach wie vor „mechanischen Gehorsam“ erfordert. Dieses System ist nicht demokratisch, kann es gar nicht sein, weil – mit oder ohne Diktator – die ökonomischen Voraussetzungen zur freien Entfaltung autonomer Individuen fehlen.

Solange Gesellschaften ihr Überleben dadurch sichern müssen, dass sie autonomes Handeln ihrer Mitglieder gesellschaftlich ächten, bleiben Spielregeln zur Bewältigung ihrer individuellen und gesellschaftlichen Konflikte – wie sehr von Lehrmeistern nördlicher Demokratien auch gewünscht, und durch Sanktionen eingefordert – undemokratisch. KLAUS JÜRGEN SCHMIDT, Balge