Flügelkämpfe in der Piratenpartei: Die Kernis und die Anderen
Sie waren alle Piraten, jetzt spalten sie die Piratenpartei in zwei Flügel. Eine Bewegung auf dem Weg zur digitalen Volkspartei.
Der Mann im beigen Trenchcoat nimmt einen Schluck aus der Bierflasche und wippt auf und ab. "Das mit Zensursula, das war nicht schlecht", sagt er. "Aber jetzt, wo das gekippt ist?" "Na ja, gekippt kann man nicht sagen", hält Sebastian von der anderen Seite des Infotisches dagegen. Der Mann im Trenchcoat bleibt unbeirrt, er reckt den Zeigefinger von der Hand, die die Flasche hält. Das Bier schwappt ans grüne Glas. "Der Internetansatz war super", doziert er. "Aber jetzt müsst ihr mit neuen Sachen kommen."
Düsseldorf, 1. Mai, kurz vor zwei Uhr in der Nacht. Ein kühler Wind weht vom Rhein herüber. Mit Flugblättern, Wahlprogramm und Gratis-Kugelschreibern haben sich die Piraten an der Uferpromenade eingerichtet. Nonstop wollen sie hier in der letzten Wahlkampfwoche um Stimmen werben, bei Feiersüchtigen, bei Sonntagsspaziergängern, bei Berufstätigen. Rund um die Uhr. Sieben Tage. 168 Stunden. Rekordversuch eines Senkrechtstarters im deutschen Parteienspektrum. Und der Versuch, zu beweisen, dass man keine Eintagsfliege ist.
Geduldig hat Wahlkämpfer Sebastian dem angetrunkenen Nachtschwärmer zugehört. Jetzt bemüht sich der 26-jährige Programmierer etwas klarzustellen. "Ich würde uns nicht aufs Internet reduzieren", sagt er. "Unser Kernthema ist Transparenz. Da kann man ein ziemlich breites Programm drauf aufbauen. Wir haben sogar Drogenpolitik mit drin." Der Herr, der sich als Wechselwähler bezeichnet, ist noch nicht wirklich überzeugt. "Ja, und Studiengebühren weg und so was, das sagt die Kraft von der SPD auch. Das ist doch abgedroschene Scheiße." Ein Schluck aus der Bierflasche, der Finger reckt sich.
Im Wahlkampf an Rhein und Ruhr versuchen die Piraten mehr zu sein als ein Sammelbecken für Nerds, denen an freiem Internet und sonst nichts gelegen ist. Sie präsentieren sich als Vollpartei, irgendwie liberal, irgendwie libertär, irgendwo zwischen FDP und Grünen. Die Strategie ist heikel: Ein Schritt ins politische Establishment oder einer in die Bedeutungslosigkeit?
Birgit Rydlewski, Landesvorsitzende und im Hauptberuf Berufsschullehrerin, hat die inhaltliche Öffnung mit vorangetrieben. Für sie war klar: Wenn die Piraten in NRW antreten, müssen sie auch zu anderen Themen was zu sagen haben, zur Bildung etwa. Sie hat in einem Arbeitskreis Eckpunkte entworfen. "Dass wir eine Schule für alle wollen, war uns sofort klar", sagt die 40-Jährige. Und sonst? Nach kontroversen Diskussionen einigten sich die Piraten auf das Konzept einer "fließenden Schullaufbahn". Gemeint ist damit vor allem, dass das Sitzenbleiben abgeschafft wird. Gehört hat man auch das schon von anderen.
Diesen Text und viele andere mehr lesen Sie in der vom 8./9. Mai 2010 – ab Sonnabend zusammen mit der taz am Kiosk.
Welche Idee lässt sich über das Programm spannen? "Dass das Individuum die höchstmögliche Freiheit haben sollte", sagt Rydlewski. "Die individuelle Selbstverwirklichung." Nach einer fertigen Philosophie klingt das nicht. Aber Rydlewski gibt auch nicht vor, eine zu haben.
In der Bundespartei, sagt sie, habe es einige gegeben, die befürchteten, die Piraten in NRW könnten mit ihren Positionen zu weit vorgeprescht sein. Und sie kann die Bedenken verstehen, sie sei da selbst in einem Dilemma. "Es gibt bei uns in der Partei inzwischen zwei Flügel", erklärt Rydlewski. "Die Kernis, die bei den Kernthemen bleiben wollen. Und dann die …" Sie überlegt. "…tja, die anderen", ergänzt ein Landtagskandidat, der sich dazugestellt hat. Die Namenlosigkeit ist schon ein Symbol für sich.
Oskar Niedermayer ist Politikprofessor an der Freien Uni Berlin und hat die Debatten der Piratenpartei in den vergangenen Monaten verfolgt. Er ist skeptisch, ob ein breites Programm den Piraten nützt. "Mit ihrem Schwerpunkt auf Netzpolitik können sie schon jetzt sehr gut eine gewisse Klientel ansprechen." Er rät, sich eher behutsam neue Themen zu erschließen - von der Netzpolitik aus langsam benachbarte Felder wie die Bürgerrechte zu besetzen. "Wenn sie jetzt einen Gemischtwarenladen aufmachen, kommen sie anderen Parteien schnell ins Gehege." Die meisten Positionen seien ja von anderen schon besetzt.
Parteienforscher sind sich unschlüssig, ob die Piraten auf Dauer mehr sein können als eine Special-Interest-Partei. Oft fällt der Vergleich mit den Grünen, die ebenfalls ein von den damals etablierten Parteien vernachlässigtes Thema aufgegriffen haben. Das ist bei den Piraten ähnlich, allerdings mit einem markanten Unterschied: Hinter dem Ökologie-Thema der 80er verbarg sich ein grundsätzlicher Wertekonflikt. Wenn die Regierung heute Internetsperren schaffen will, regen sich die Onliner zwar auf. Aber der Rest zuckt mit den Schultern. Niedermayer bezweifelt daher, dass die Netzpolitik eine solche Trennlinie markiert - weshalb es den Piraten eher schwer fallen dürfte, über ihr Kernthema hinaus wirklich eigene Positionen zu finden.
Wahlkämpfer Sebastian hält dennoch durch. Er schüttet den kalten Kaffee in den Gully und gießt sich neu aus der Thermoskanne ein. Es ist kurz vor drei Uhr in der Früh, bis elf will er bleiben. Der Wechselwähler im Trenchcoat leert die Bierflasche und murmelt etwas, dann verschwindet er. "Gute Nacht", ruft ein Pirat ihm schon hinterher. Sebastian gibt den Wechselwähler nicht verloren. "Ich glaube, der kommt wieder", sagt er. "Der holt sich nur was zu saufen."
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