: Flüchtlinge und Grenzen
■ Die CSFR schottet sich ab — diesmal Richtung Sowjetunion KOMMENTARE
Jahrelang gehörte die Forderung nach Bewegungsfreiheit für die Bürger des ehemaligen Ostblocks zum Standardrepertoire westlicher Politiker. Nun ist es bald soweit. Auch die Sowjetunion, die sich freiwillig von ihrem westlichen Hegemonialreich getrennt hat, wird als letztes Land demnächst ihre Reisegesetze liberalisieren. Damit steht den angrenzenden Ländern und besonders der BRD eine Flüchtlings- und Besucherwelle ins Haus, die sich in ihrem Ausmaß kaum beziffern läßt. Millionen werden es sein, die sich den Westen anschauen wollen, oder dort nach besseren Lebensbedingungen suchen. Keiner kann es ihnen ernsthaft verdenken. Wie kein anderes Volk des Ostens haben die Nationen der UdSSR unter der hermetischen Abriegelung gelitten. Mit der Konsequenz, daß die Uhren hier trotz „Uskorenie“ (Beschleunigung) im Zeitraffer laufen und das Gefälle zwischen westlichem Zivilisationsminimum und sowjetischem Alltag unaufhörlich wächst. Überlegungen, ob man mit großzügiger Hilfe die derzeitige unfähige Regierung weiter im Sattel hält, sind dabei zweitrangig oder sogar müßig. Denn mit der überfälligen Wirtschaftssanierung werden noch viele Regierungen befaßt sein.
Meint man es also bei uns ernst mit der „Rückkehr Rußlands nach Europa“, muß man für den Sturm gewappnet sein. Kontakte befördern, Experten ausbilden und die bürokratischen Hemmnisse beim Reiseverkehr abbauen. Ein paar Konservendosen ändern an der Situation nichts, auch wenn sie unser Gewissen beruhigen. Die Belastungen, die auf die BRD zukommen, sind natürlich gewaltig. Zugegeben. Aber gemessen an dem, was eine kleinkarierte Pfennigfuchserei Deutschland auf Dauer kosten würde, nur ein Trinkgeld. Man male sich nur einmal das Aggressionspotential einer isolierten UdSSR und eines am Boden liegenden Rußlands aus. Doch noch scheint man das nicht recht begriffen zu haben. Wollen Sowjets in die BRD reisen, müssen ihre Gastgeber eine Selbstverpflichtung unterschreiben, die Kosten im Krankheitsfalle zu übernehmen. Diese Verschärfung stammt aus diesem Jahr! Jede Hungerhilfe gerät so zur Heuchelei. Warum hört man davon nichts?
Wahrscheinlich würde der Westen es der CSFR am liebsten gleichtun und ebenfalls einen Zaun gegen Ostflüchtlinge hochziehen. Nur geht das aus Glaubwürdigkeitsgründen (noch) nicht so ohne weiteres. Zweifellos ist es ein unschöner Akt, den man aber gerade diesem von der Sowjetunion gebeutelten Land nicht zum Vorwurf machen kann. Es kämpft selbst ums Überleben, und was das bedeutet, wissen nur die Menschen im Osten. Daß ausgerechnet die Tschechoslowakei sich damit in die Schlagzeilen bringen mußte, ist tragisch. Das hätte man lieber denen im Westen überlassen sollen, für die große Worte billig sind und die jetzt vor der Erfüllung ihrer Träume stehen und sich vor der Realität fürchten. Klaus-Helge Donath
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