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Flucht aus der DDRDer Mann der dringend wegmusste

50 Kilometer schwamm der junge Arzt Peter Döbler, um aus der DDR in den Westen zu kommen. Dafür trainierte er systematisch über Jahre. Heute lebt er mit seiner kapverdischen Frau und seinem kleinen Sohn in Hamburg.

Akribischer Planer: Peter Döbler. Bild: Ulrike Schmidt

Wen man ihn sieht, denkt man: Nein, das kann nicht sein. Dass dieser distinguiert gekleidete ältere Herr vor 38 Jahren 25 Stunden durch die Ostsee schwamm, um der DDR zu entkommen. Dass er zwei Jahre lang trainierte, generalstabsmäßig und einsam, um einem System zu entfliehen. Überraschend auch seine Hamburger Wohnung: ein Mix aus Sesseln, Kissen, Vasen und Nippes. Zugestopft hat er sie, als wolle er sich vor etwas schützen - aber die Vergangenheit kann es nicht sein: Peter Döbler spricht bereitwillig über seine Flucht. Aber er redet nicht wie ein Held. Eher wie ein Wissenschaftler, der ein Experiment erzählt.

Das allerdings war kein kleines: 1971 ist der Arzt, 31-jährig, von Kühlungsborn nach Fehmarn geschwommen. 50 Kilometer sind das; es hatte noch keiner geschafft. Heikel war die Strecke nicht nur wegen ihre Länge - riesige Fähren kreuzen die Route, die einen leicht überrollen. Und man muss mit Sternenhimmel und Kompass vertraut sein. Kann kaum essen. Nichts trinken. Einen Tag und eine Nacht.

Aber man kann Appetitzügler nehmen. Amphetamine, die zudem euphorisch machen. Genau genommen, sagt Döbler, "habe ich mich gedopt". Damit kannte er sich aus, der Mediziner, der es fast nicht hätte werden dürfen, weil sein Vater selbständiger Steuerberater war. "Und Kinder von ,Kapitalisten' durften ja in der DDR nicht studieren", sagt Döbler. Der Vater starb während der Immatrikulationsfrist, und Döbler wurde Mediziner. "Da bin ich erstmals ins Grübeln gekommen: Ich war derselbe Mensch mit denselben Leistungen - aber mein Vater musste sterben, damit ich studieren durfte."

Döbler bleib nicht derselbe. Er wurde renitent. Wollte nicht unterschreiben, dass die Amerikaner aus Vietnam abziehen sollten, solange die Russen die Tschechoslowakei besetzt hielten. Seine Kritik hatte Folgen: Döbler musste Notdienste schieben, wurde in der Facharztausbildung behindert, bekam trotz Frau und Kind keine Wohnung. Er drohte seinem Chef mit Kündigung. Geholfen hat es nicht, natürlich nicht: Alle wussten, dass DDR-Bürger nur mit Einwilligung des Chefs den Arbeitsplatz wechseln.

Wann genau er beschloss zu fliehen, weiß er nicht mehr. "Gesprochen habe ich mit keinem. Nur meine Mutter wusste, dass ich abhauen würde, sobald ich könnte." Aber solche Chancen stellen sich nicht von selbst ein. Döbler erwog verschiedene Routen: Per Faltboot aus Polen, über Bulgarien nach Griechenland, vom Darß aus, wo nur 18 Kilometer zu schwimmen waren. Irgendwann stand fest: Kühlungsborn wird es sein. Das war weiter, aber relativ sicher, weil die Stasi niemandem zutraute, 50 Kilometer zu schwimmen.

Jetzt wütete Döbler nicht mehr, sondern plante, genau zwei Jahre lang. "Ich bin stundenlang durch die Ostsee und die Warnow geschwommen, um Kondition zu bunkern. Habe dabei oft Aale gestochen, damit es nicht so langweilig war, 10 oder 15 Stunden im Wasser zu bleiben." Das tat er oft, im Sommer täglich - und möglichst unauffällig. Denn natürlich wurde die Ostseegrenze beobachtet: "In Boltenhagen, wo viele zu fliehen versuchten, konnte man sein Auto nicht über Nacht stehenlassen, ohne sich verdächtig zu machen", sagt Döbler.

Stück für Stück sammelte er Informationen für seine Route. "Scheibchenweise, damit niemand hellhörig wurde", habe er Marineangehörige über die DDR-Grenzboote vor Fehmarn befragt. Und einige Nächte lang hat er sich mit Fernglas neben die DDR-Grenzscheinwerfer gestellt, um zu prüfen, "wie viel die eigentlich sehen". Fazit: im Dunkeln wenig. Es reichte, beim Schwimmen nicht die Arme aus dem Wasser zu nehmen. Brustschwimmen also.

Döbler recherchierte akribisch - wie einer, der das perfekte Verbrechen plant - was es für die DDR-Obrigkeit ja auch war. Döbler sitzt in seiner plüschigen Wohnung, über ihm hängt ein gemaltes Schiff im Sturm, während er das erzählt. Und ein bisschen erinnert diese Geschichte vom langen, eisernen Training an den Hochleistungssport der DDR. Vielleicht war es für ihn ja auch ein Sport: der DDR-Obrigkeit zu beweisen, dass er entwischen konnte. Aber Döbler sagt das nicht so. Er bleibt sachlich und betont, dass es nach Jahren "auch intensiven, mentalen Trainings ganz selbstverständlich war, ins Wasser zu gehen. Jeden Abend vorm Einschlafen habe ich mir jeden Handgriff vorgestellt" - auch dies eine bewährte Sportlermethode: Autosuggestion bis zum Exzess.

Am Erfolg gezweifelt hat er nie. Trotzdem muss es bedrückend gewesen sein, Verwandte und Freunde zurückzulassen. "Nein", sagt Döbler, "das war kein Problem. Meine Mutter war schon älter, und als Rentnerin würde sie bald reisen können. Außerdem dachte ich, dass es vielleicht mal eine Wiedervereinigung gäbe." Das kommt zu glatt; vielleicht ein später hinzu gedichteter Teil seiner Geschichte.

"Damit, dass man viele Menschen lange nicht sehen wird, muss man sich natürlich auseinandersetzen", sagt er dann noch. Im Nebensatz erwähnt er, dass er sich ein Jahr vor der Flucht scheiden ließ. "Ich habe meine Privatkontakte systematisch eingefroren." Die Mutter sah er nur noch selten: Er wollte sie nicht zur Mitwisserin machen. Am Tag der Flucht hat er ihr geschrieben, dass sie ihn - zu ihrer eigenen Sicherheit - wegen Republikflucht anzeigen solle. Sie tat es.

Und wenn die Stasi Druck auf die Mutter ausgeübt hätte? Wäre Döbler zurückgekehrt? "Das war nicht wahrscheinlich", sagt er. "Sie war schon alt, und wenn keine Fluchthilfe vorlag, war die Stasi nicht so hart." Auch die Stasi-Verhöre mit der Mutter seien "harmlos" gewesen.

Wenn es um ihn selbst ging, fand er die Stasi weniger zahm. Jahrelang habe er sich im Westen verfolgt gefühlt, sagt Döbler. Als er einem Bekannten Jahre später zur Flucht verhalf, erneuerte sich die Angst. "Die Stasi kannte da nichts. Die haben Leute auch im Westen einfach umgelegt." Aber letztlich, sagt er dann, sei er nicht wichtig genug gewesen, um in die DDR rückentführt zu werden.

Ein Sportboot fischte den Flüchtling aus der Ostsee vor Fehmarn und brachte ihn auf eigenen Wunsch zur Polizei. Döbler zog zunächst zur Kusine. Dann kam die Presse. 5.000 Mark habe ihm ein Magazin für die Exklusiv-Geschichte geboten. Bald hatten es alle, und "das hat mir enorm geholfen: Nach vier Wochen hatte ich eine Arbeitsstelle", sagt er. "Da hat keiner nach meiner Geburtsurkunde gefragt. Die kannten mich ja alle und fanden gut, was ich gemacht hatte."

Er wurde Urologe, hatte eine Praxis in Hamburg und hätte bis zur Rente weitermachen können. Aber Döbler hatte einen zweiten Traum: Hochseefischerei. 1994 verkaufte er die Praxis, 1995 zog er auf die Kapverden. Im Sommer lebte er vom Fischfang, im Winter machte er in Deutschland Notdienste. Inzwischen ist er mit einer jungen Kapverdin verheiratet. Der gemeinsame Sohn ist jetzt fünf, "und damit er Deutsch lernt und zur Schule gehen kann, wohnen wir seit 2007 in Hamburg".

Und Döbler schiebt wieder Notdienste. Er wirkt zufrieden, wie er da so zwischen seinen vielen Sachen sitzt. Und der Besucher findet sich immer noch nicht zurecht in dieser Vita, einem Mix aus Disziplin und Ausbrüchen. In einem Leben, von dem es eine zweite Version geben muss. Eine, die erklärt, warum er sich kurz vor der Flucht scheiden ließ, warum er mit 54 nochmal von vorn anfing und wieso er jetzt die einst verhassten Notdienste schiebt.

Vielleicht ist es eine Geschichte über Krisen und Abenteurertum. In jedem Fall aber eine über lebenslange Unrast.

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