Florian Schroeder gegen Gemeinsinn : Gemein!
Florian Schroeder verwehrt sich unserem Befund des Mangels an Gemeinsinn. Ein Text gegen den Gemeinsinn oder ein Lob der Gleichgültigkeit.
taz FUTURZWEI | Gemeinsinn – ein Wort aus dem Giftschrank. Es klingt nach Gutmeinenden, den Schlimmsten, die es gibt. Es klingt nach Kirchentag, nach unangenehmer Schwülstigkeit.
Nach dem üblichen „Wir sind alle so egoistisch geworden“ und „Alle denken nur noch an sich.“ Worte, bei denen irgendwas mit neoliberal geradezu zwangsläufig auf dem Fuße folgen muss.
Gemeinsinn – da steckt Gemeinheit drin und das genau scheint das Entscheidende. Die Forderung nach Gemeinsinn hat etwas Gemeines, weil sie ein-fordert. Es soll eine Art Verpflichtung sein, sich um die Gemeinschaft zu kümmern.
taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°31: GEMEINSINN
Gemeinsinn gilt manchen als gut gemeint, salonlinks oder nazimissbraucht. Kann und wie kann Gemeinsinn zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen?
Mit Aleida Assmann, Armin Nassehi, Barbara Bleisch, Florian Schroeder, Jagoda Marinić, Wolf Lotter, Heike-Melba Fendel, Florence Gaub, Paulina Unfried, Tim Wiegelmann und Harald Welzer.
Das mag ein sympathischer Ansatz sein, aber, einmal formuliert, wird daraus schnell eine Art Tugend, eine Pflicht, die diejenigen, die sie erfüllt sehen wollen, auch gern bewiesen haben wollen. Gemeinsinn ist moralische Pflicht, keine Freiwilligkeit.
Zu viel Gemeinsinn schadet
Die Gemeinheit im Gemeinsinn ist die erzwungene Nähe, die darin suggeriert wird. Wir leben nicht zu wenig Gemeinsinn, sondern zu viel. Denn auf dem Fuße folgt die Beweislastumkehr: Die Forderung danach, die Gemeinschaft habe sich mit ihrem Gemeinsinn um mich, den Einzelnen, zu kümmern.
Das lässt sich beobachten an all den Menschen, die ihr Leben damit bestreiten, verletzt zu sein. Sie suchen die Gemeinschaft, sie brauchen die Gemeinschaft als Einheit, die sie bestätigt durch Mitleid – auch so ein Wort aus der Vorhölle der Verachtung.
Florian Schroeder ist Satiriker, Hörfunk- und Fernsehmoderator (ARD) sowie Autor und Publizist. Zuletzt erschien Unter Wahnsinningen. Warum wir das Böse brauchen, dtv 2023.
Die Verletzten dieser Erde, erkennbar daran, dass sie dieses Verletztsein gleichsam narzisstisch vor sich hertragen, wollen eben nicht Entlastung – im Sinne einer Heilung der Wunde, die den Schmerz und die Verletzung hervorgerufen hat – nein, vielmehr suchen sie nach dem sprichwörtlichen Salz, das sie in die Wunde streuen können, damit sie weiter bluten möge.
Diese Leute fordern auf erpresserische Weise eine Empathie einer sie umgebenden Gemeinschaft – sie klagen ein, was nicht einklagbar ist.
Peiniger und Opfer - eine paradoxe Beziehung
Nicht etwa der eigene Beitrag zu einer funktionierenden Gemeinschaft ist entscheidend, sondern die Gemeinschaft, die sich als Schuldige an der Verletzung des Verletzten nun auch bitte schön zu kümmern hat. Das ist ein spannendes Paradox.
Schließlich möchte man landläufig von seinen Peinigern eigentlich keinen Trost erfahren. Aber hier fallen Peiniger und Mitleidende in eins. Schließlich sollen sie sich schuldig fühlen, damit ihnen niemals verziehen werde. Sonst drohte Heilung der Wunde und das wäre das Ende ihrer Aufmerksamkeitsökonomie.
Das zeigt die Aporien dieses Gemeinsinn-Ansatzes, der pars pro toto für eine anstrengende Überhitzung der Gegenwart steht. Wir sind auf dem Weg in eine Gesellschaft des Opfers und der Opferhierarchien. Ein Wettstreit um die edelste – und mithin unschuldigste – Opferposition ist in vollem Gange. Olympischer Diskriminierungswettstreit allerorten.
Diesem Pathos der erzwungenen Nähe möchte ich ein Pathos der Distanz entgegenstellen. Es war Arthur Schopenhauer, der 1851 das Gleichnis der Stachelschweine erfand: „Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich, an einem kalten Wintertage, recht nahe zusammen, um durch die gegenseitige Wärme, sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln; welches sie dann wieder voneinander entfernte.“
Zwischen beiden Leiden wurden sie hin- und hergeworfen, „bis sie eine mäßige Entfernung von einander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten“.
Voraussetzung dieses Abstands ist es, sich vor allem auf sich selbst zu verlassen zu können, um eben nicht auf den Gemeinsinn einer im Kern fremden Gemeinschaft angewiesen zu sein. Dafür sind selbstwirksame Kräfte vonnöten, Übernahme von Verantwortung und nicht die Suche nach der nächsten Klagemauer.
Lob der Gleichgültigkeit
Inmitten der schwülen Wärme des Verletztseins wäre es vielleicht sinnvoll, einmal das Fenster aufzumachen und den kühlen Novemberwind einmal durchblasen zu lassen. Etwas mehr Kühle wäre schon insofern sinnvoll, da Gemeinschaft etwas ist, das nur sehr bedingt erträglich ist. In erster Linie sind uns andere Menschen doch gleichgültig – und das ist alles andere als eine schlechte Nachricht.
Im Gegenteil. Es ist schon sehr viel gewonnen, wenn es dem Individuum der Gegenwart gelingt, unbehelligt durchs Leben zu gehen und unbeobachtet zu sein, Aufmerksamkeit nur dort empfangend, wo er diese auch aussendet. Wir aber erleben das Gegenteil: Im Zeitalter des Jetzt, in dem wir leben, kommt uns ohnehin die Welt unangenehm nahe.
Denken wir nur an TikTok, wo, sobald wir die App öffnen, sofort tanzende oder quallig quatschende Wesen (Maximilian Krah) auf uns einwirken – zumeist in Nahaufnahme mit dem Kinomodus gefilmt, sodass jeder Pickel sichtbar ist. Diese neue Tyrannei der Intimität verlangt im Gegenzug höchsten Abstand in Form des Gleichgültigseins.
Dieser Abstand muss ja kein misanthropischer sein. „Interesseloses Wohlgefallen“ nannte das Immanuel Kant – wenn Gleichgültigkeit bedeutet, dass der Mensch Anteil nimmt an dem, was die Zeitgenossen so treiben, aber eben ohne gleich Teil des Spiels sein zu wollen, ohne sich gleich aufdringlich ins Bild zu drängen.
Nur im Abstand, im gezielten Ausschalten des eigenen Radars – mindestens teilweise – im Stillstellen der Betriebsamkeit, im Aus- und Wegschalten, im Ignorieren der aufgestauten Wichtigkeit anderer liegt ein Teil der Heilung der eigenen Zeit. Aber dafür wäre eines vonnöten: Man müsste die Position des Verletzten verlassen und das dazugehörige überhitzte Pathos aufgeben.
■ Dieser Beitrag ist im Magazin taz FUTURZWEI erschienen. Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe von taz FUTURZWEI N°31 gibt es jetzt im taz Shop.