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Archiv-Artikel

Fische schauen dich an

Von Korallen, Quallen, vegetarischen Haien und klammernden Vätern: „Findet Nemo“, die neue Produktion aus dem Pixar-Studio, setzt Maßstäbe. Die Poesie des Zeichentricks ist allgegenwärtig

So viele Effekte, nur um bisher unerreichte Schönheit erstrahlen zu lassen

von MARTIN ZEYN

Am Anfang scheint alles klar zu sein. Nemos Eltern, zwei putzige Clownfische, haben eine lauschige Anemone in einem entzückenden Korallenriff gefunden und warten darauf, dass ihre Brut schlüpft. Wenige Minuten später sind die Mutter und alle 400 Geschwister tot, von einem Barrakuda gefressen. Während er das einzig verbliebene Ei in seinen Flossen hält, schwört der Vater, Nemo, seinem Sohn in spe, dürfe nie etwas zustoßen.

Frei nach dem Produzentenkalauer, man müsse mit einem Erdbeben beginnen und sich dann langsam steigern, geht dieser Film weiter. Am Ende jeder Erzählsequenz steht die Verzweiflung. Die Kinder im Publikum waren sehr leise, gelacht haben eher die Erwachsenen, wenn etwa Hitchcocks „Die Vögel“ und „Psycho“ zitiert wurden. Nemo fühlt sich von seinem klammernden Vater ungerecht behandelt. Er begibt sich willkürlich in Gefahr, wird eingefangen und in ein Aquarium bei einem Zahnarzt eingesperrt. Der kleine Nemo soll einem kleinen Mädchen geschenkt werden, das schon einen Fisch auf dem Gewissen hat. Er wird sterben, kein Witz kaschiert das. Dead Fish Swimming, das Aquarium als Todeszelle. Wie nebenbei, aber umso bemerkenswerter: In diesem Kinderfilm wird ein Kind als Killer dargestellt, das sich stolz mit dem nach oben schwimmenden Kadaver ablichten lässt. Menschen, also das Zielpublikum, sind eindeutig eine Bedrohung – und was noch mehr mit den Genrekonventionen bricht, es gibt keine Ausnahme, keinen hilfreichen Zweibeiner. Die Mörder sind nicht nur unter uns, die Mörder sind wir.

Marlin, der Vater, seinerseits überwindet die Angst vor dem offenen Meer und schwimmt hinaus, um Nemo zu finden. Ein Hai mit 202 einzeln animierten Zähnen fängt den Herumirrenden, zum Glück lautet sein Motto: „Fische sind Freunde, kein Futter.“ Urkomisch, wie in dieser Szene die Selbstanklagerituale der Anonymen Alkoholiker persifliert werden: „Ich habe seit drei Wochen keinen Fisch mehr gegessen.“ Marlin taucht in die Tiefsee und begegnet einem Laternenfisch, dessen Aussehen mit einem Alien konkurriert. Und das ist noch nicht alles, was ihm während seiner Odyssee widerfährt. Nemo ergeht es kaum besser. Das Aquarium ist ein Ort des Schreckens. Bei einem Fluchtversuch endet er fast als Haschee. Der Tod scheint unausweichlich. Ein alter, fast vergessener Kunstgriff: Schon Walter Benjamin hatte auf den Zusammenhang von Komik und Grauen in den frühen Disney-Zeichentrickfilmen hingewiesen.

„Findet Nemo“ spielt überwiegend unter Wasser. Damit ging das Pixar-Studio ein Wagnis ein. Die Animation von Wasser ist die Königdisziplin im Trickfilm. Jahrzehntelang haben die Szenen in „Pinocchio“ oder im „Zauberlehrling“ einen Maßstab vorgegeben, der nie wieder erreicht wurde. Der Aufwand an Einzelzeichnungen, um die chaotische Bewegtheit der Oberflächen und die flimmernde Lichtbrechung wiederzugeben, ist so exorbitant, dass aus Kostengründen die Disney-Standards nie eingeholt wurden – übrigens auch nicht mehr von Disney selbst. In „Findet Nemo“ hingegen sieht das Wasser so realistisch aus, als wären wir in einem Cousteau-Film. Plankton, Strömungsverhältnisse, Spiegelungen, Lichtbrechung, all das wurde mit einbezogen. Vor Jahren gab es auf dem Medienfestival „ars electronica“ noch Szenenapplaus, als auf einer computeranimierten Pupille eine Reflexion zu sehen war. Der neue Pixar-Film ist Lichtjahre weiter. Die Liebe zum Detail überwältigt: von 12.996 Korallen, 74.472 Quallen und 290.336 Luftblasen spricht das Presseheft. Und nie hat das die Kälte von bloß berechneten, aus mathematischen Formeln generierten Bildern. Geradezu poetisch bewegt sich der Quallenschwarm mit seinen tödlichen Tentakeln. Was auf die Geschichte zurückwirkt: Ein verspielter Fisch nutzt die Körper als Trampolin, anstatt in Panik zu geraten.

Der Animator Art Babbitt, der die kanonische Szene der tanzenden Pilze in Disneys „Fantasia“ (1940) geschaffen hat, beklagte sich in einem Interview: „Wir haben vergessen, wie sich Figuren bewegen.“ Dezidiert richtete er sich gegen das Rotoscoping-Verfahren, in dem Realfilmaufnahmen abgezeichnet werden. Er forderte stattdessen ein, nach genauem Studium der tatsächlichen Bewegungsabläufe mit Hilfe der Fantasie imaginäre, aber plausible Figuren zu entwerfen. „Eine Karikatur ist ein satirischer Essay über eine ganze Figur“, kürzer wurde nie die Poesie des Zeichentricks beschrieben – eine Poesie, die in „Findet Nemo“ allgegenwärtig ist.

Gute Animatoren sind offenbar immer auch Kindsköpfe. Es scheint ein Gesetz der Psychologie zu sein, dass Menschen, die Jahre an der Verbesserung eines Effekts arbeiten, sich an ironischen, selbstreferentiellen Spielereien vergnügen. Überall sind Zitate, Verweise, auch Insidergags versteckt. Dieser Metatext erschwert nicht die Lektüre, denn das Understatement von Regisseur Andrew Stanton lässt keine Eskapaden zu. Selbstverliebte Kameraeinstellungen wie in „Monster AG“, wo auf dem aufwändig animierten Fell von „Sulley“ (drei Millionen seidige Haare) einen Tick zu lang verharrt wurde, fehlen. Aber trotzdem hat es manchmal den Anschein, als wären bei diesem Film die Gesetze der Ökonomie außer Kraft gesetzt. So viele Effekte, nur um diesen Film in einer bisher unerreichten Schönheit erstrahlen zu lassen – wäre der Produzent John Lasseter nicht Vizechef des Studios, kein anderer hätte wohl diesen Aufwand ermöglicht. „Imitating life“ so wurde das Motto von Walt Disney umschrieben, Pixar erweist sich als würdiger Nachfolger des perfektionistischsten aller Trickfilmer.

Erstaunlicher noch als diese Sorgfalt ist die Differenziertheit des Drehbuchs. Slapstickartig kommt der vegetarische Hai daher, eine komödienübliche Umkehrung des Klischees. Dann dreht sich das Bild noch einmal, als er Blut riecht, wird er wieder zu einem Killer. Ein Klischee wird komplex. Die Schönheit der Quallen steht im Kontrast zu ihrer Tödlichkeit. Der Vater wird mit mütterlichen Eigenschaften gezeichnet, er klammert, er sucht die körperliche Nähe zu seinem Kind, er will es nicht erwachsen werden lassen. Überhaupt der Vater – es gibt keinen abendfüllenden Trickfilm mit dem Vater als Hauptfigur (sehen wir vom Zwitter „Das Imperium schlägt zurück“ einmal ab). Entweder spielt ein Kind die Hauptrolle oder es wird ganz auf diesen Generationenkonflikt verzichtet. Der ungeheure Erfolg von „Findet Nemo“ in den USA liegt darin begründet, dass es sich um einen Film für Erwachsene handelt, der allerdings ohne Altersbeschränkung freigegeben ist. Befremdlich nur, dass die mühsam aufgebaute weibliche Begleiterin von Marlin am Ende einfach verschwindet. Ohne sie hätte Marlin seinen Sohn nie gefunden, ohne sie hätte er nicht überlebt. Doch am Schluss, heimgekehrt ins traute Korallenriff, fehlt sie. „Findet Nemo“, dieser Familienfilm, hätte statt mit einer optimierten Vater-Sohn-Beziehung noch besser mit einer Patchworkfamilie enden können. Kein Film ist perfekt, dieser ist nahe dran.