: Finale für den Fado
Nach dem 2:1-Erfolg im Halbfinale gegen die Niederlande reiht sich Portugals Coach Felipe Scolari per Selbstverfügung in die altehrwürdige Landestradition ruhmreicher Seefahrer und Entdecker ein
AUS LISSABON MATTI LIESKE
„Wir haben gelitten“, sagte Luis Figo, der Spieler. „Wir haben am Ende sehr gelitten“, bestätigte Felipe Scolari, der Trainer. Und gelitten hatten vor allem die Portugiesen – im Estádio Alvalade, vor den vielen Riesenleinwänden, wo sie sich zu tausenden versammelt hatten, vor den Fernsehgeräten in den Bars und Restaurants oder zu Hause. Die Straßen des Landes gehörten an diesem Abend exklusiv den Hunden und Katzen, die sich vermutlich gefragt haben, wo denn all diese lästigen Menschen geblieben sind. Ganz einfach: Sie schauten Fußball – und sie litten.
Einfach machen es die portugiesischen Fußballer ihren Fans nie. Ein zweites Tor schießen, dann gleich hinterher ein drittes, den Gegner ein bisschen kommen lassen, dann eiskalt Nummer vier nachlegen – so etwas kommt für das Team von Felipe Scolari nicht in Frage. Hundertmal kann man die Spieler der Gastgeber dieser EM allein auf den gegnerischen Keeper zulaufen lassen, niemals werden sie den Ball ins Tor bekommen. Und sollte der Torwart von seinem Trainer wie beim Eishockey auf die Bank beordert werden, um einem weiteren Stürmer Platz zu machen, dann würden sie an seinem leeren Gehäuse den Pfosten treffen oder sich gegenseitig anschießen. Dafür fällt ihnen auf der anderen Seite immer noch etwas ein, um die Sache richtig dramatisch werden zu lassen. Der blödsinnige Eckball im Viertelfinale zum Beispiel, durch den die Engländer kurz vor Ende der Verlängerung zum 2:2 ausgleichen konnten, oder gestern im Halbfinale gegen die Niederlande das Eigentor von Andrade kurz nach dem 2:0. Oder das unsinnige Foul von Couto an der Strafraumgrenze in der Nachspielzeit, wo doch die Holländer gerade Pierre van Hoojdonk eingewechselt hatten, ihren Freistoßspezialisten. Wundersamerweise jagte dieser den Ball in die Mauer, es blieb beim 2:1 für Portugal, das Aufatmen einer Nation war von Viseu bis Sagres zu hören und wenig später alles Leid schon vergessen. „Purrtugal oléeeee“, schallte die glückstrunkene Sinfonie des Triumphs übers Land, als hätte das Team die EM bereits gewonnen.
So ähnlich sehen es die Portugiesen auch. Das Finale am Sonntag ist sozusagen die Zugabe, die „Kirsche auf dem Kuchen“, wie es Felipe Scolari nennt. Ihre eigentliche Mission hat die Mannschaft jedoch schon gegen Holland erfüllt. „Wir segeln in Gewässern, die bisher niemand befahren hat“, nannte der selten um große Worte verlegene brasilianische Coach die Tatsache, dass Portugals Fußballer erstmals das Finale eines großen Turniers erreicht haben. 1966 bei der WM im Halbfinale trotz eines unwiderstehlichen Eusebio an den englischen Gastgebern gescheitert – und am Schiedsrichter, wie auch objektive Beobachter einräumten; 1984 in einem der schönsten Matchs der EM-Geschichte im Halbfinale an Platinis Franzosen; vor vier Jahren im Halbfinale gegen Frankreich an der Pfeife des Schiedsrichters Nielsen, der ein vermeintliches Handspiel mit Elfmeter ahndete. Zweimal also gegen den Gastgeber, dreimal gegen den späteren Titelträger verloren. Nun sind sie selbst das Heimteam und langsam überzeugt, dass dies ihr Turnier ist.
Luis Figo versagte fast die Stimme vor Rührung, als er erzählte, wie er seit 13 Jahren für das Ziel gekämpft habe, das nun erreicht sei. Auch wenn ihm die Worte fehlten, seine Gefühle zu beschreiben, durfte man ihm glauben, als er sagte: „Das war wirklich wichtig für mich.“ Im Übrigen sei er total müde. Selber schuld, denn sein Aufstand nach der Auswechslung gegen die Engländer hatte zur Folge, dass er diesmal durchspielen musste. Andererseits lieferte er dem Coach auch keinen Grund, ihn herauszunehmen. Der 31-Jährige rackerte bis zur letzten Minute, sauste an der holländischen Verteidigung vorbei wie ein Sprintweltmeister am Feld eines 5.000-Meter-Laufs, lieferte sein bisher bestes Spiel bei dieser EM und wurde verdientermaßen zum „Man of the Match“ gewählt.
Felipe Scolari versuchte sich nicht nur als Christoph Kolumbus, sondern auch als Historiker. Auf den Tag genau vor 13 Jahren sei Portugals goldene Generation mit Figo in Lissabon Junioren-Weltmeister geworden, auf den Tag genau vor zwei Jahren habe er mit Brasilien in Yokohama den WM-Titel geholt. „Ein magisches Datum“, sagte Scolari, nur schade, dass man das Endspiel nicht auch gleich noch an diesem 30. Juni austragen konnte. Den Finaleinzug mit Portugal bewertete der Trainer sogar höher als den WM-Gewinn mit Brasilien. „Im historischen Rahmen“, so Scolari, „ist das hier wichtiger. Brasilien war vorher schon viermal Weltmeister, Portugal aber noch nie in einem Finale.“
Sehr höfliche Worte hatte er für die Holländer, die bis zum zweiten Tor der Portugiesen in der 58. Minute klar unterlegen waren und erst durch den Konzentrationsverlust, die einsetzende Panik, den Kräfteschwund und die verheerende Abschlussschwäche des Gegners die Oberhand bekamen. „Zwei völlig gleichwertige Mannschaften“ wollte hingegen Scolari gesehen haben, und den Spielverlauf charakterisierte er mit dem brasilianischen Terminus „bumba-la-boi“. Was laut Scolari bedeutet: „Eine Richtung, andere Richtung, eine Richtung, andere Richtung.“ Hollands Coach Dick Advocaat hatte von Bumba-la-boi allerdings wenig bemerkt. „Das klar bessere Team ist verdient ins Finale eingezogen“, sagte der niederländische Coach und legte den Finger zielsicher in die Wunde: „Wenn die Stürmer keine Bälle bekommen, sind nicht immer sie selbst schuld.“ Die Pässe, die Bewegungen, das Spiel in die Spitze habe nie funktioniert. Eine Menge Leute in Holland hätten ihm vorher sagen können, dass genau dieser Effekt eintreten würde, wenn er ein Mittelfeld mit Davids, Seedorf und Cocu, jedoch ohne Sneijders und van der Vaart aufstellt. Jetzt werden es alle sagen, und Advocaats Tage als Hollands Coach dürften gezählt sein.
Felipe Scolari aber hat in Portugal verlängert und freut sich nach erfolgreich abgeschlossener Europameisterschaft auf die WM 2006. Und auf das kleine Nachspiel am Sonntag natürlich.