Filmtipp für Berlin: Rätselhafte Bilderwelten
Lange Einstellungen, Laiendarsteller, prägnante Musik : Werkschau des mexikanischen Regisseurs Carlos Reygadas im Kino Arsenal.
Ein Mann verlässt die Stadt, begibt sich in die Einöde, um sich dort umbringen zu wollen. Das ist die Geschichte, die Carlos Reygadas in seinem Debütfilm „Japón“ erzählt. Der Film kam 2002 in die Kinos, Reygadas war damals gerade einmal 30 Jahre alt, ein junger Nachwuchsregisseur. Um so bemerkenswerter ist es, wie er es in dem Alter schaffte, sich in die Depressionen eines alternden Mannes hineinzuversetzen, der für sich erkannt hat, dass ihn nichts mehr in seinem Leben hält.
Reygadas wurde gleich mit seinem Erstling als neues Wunderkind des mexikanischen Kinos gefeiert, „Japón“ erhielt euphorische Kritiken, wurde auf Festivals ausgezeichnet, ist längst ein Klassiker des modernen Arthouse-Kinos. Der Regisseur führte in dem Film bereits die Stilmittel ein, denen er in seinen gerade mal insgesamt fünf Filmen, die bis heute entstanden sind und die allesamt in einer Retrospektive im Kino Arsenal zu sehen sind, treu geblieben ist.
Lange Einstellungen, Laienschauspieler, überaus prägnanter Einsatz von Musik und überall lassen sich Symbole, Metaphern und Rätsel finden, das ist typisch für Reygadas. Und warum genau heißt der Film „Japón“, also Japan? Man erfährt es nicht.
Tarkowskij, Bresson, Pasolini
Die Carlos-Reygadas-Werkschau läuft vom 21. bis zum 30. Juni im Kino Arsenal, Potsdamer Straße 2, www.arsenal-berlin.de
Reygadas hat immer wieder auf den Einfluss des russischen Regisseurs Andrej Tarkowskij auf sein eigenes Werk hingewiesen. Und tatsächlich muss man bei der zerklüfteten, irreal wirkenden Landschaft, die in „Japón“ gezeigt wird, unweigerlich an die postapokalyptischen Räume denken, die in Tarkowskijs „Stalker“ durchmessen werden. Weitere Referenzen sind sicherlich Robert Bresson, der italienische Neorealismus und immer wieder Pier Paolo Pasolini. Die europäische Filmtradition hat im Mexikaner Reygadas einen ihrer eindrucksvollsten Adepten gefunden.
Schuld, Scham, Gewalt, Sex, all das wirbelt der Regisseur durcheinander, in einem stark assoziativen Stil. Man weiß in seinen Filmen nie, was als Nächstes passiert. Vor allem in seinem zweiten Film, „Battle in Heaven“, der Reygadas schlagartig vom Kritikerliebling in einen sogenannten umstrittenen Regisseur verwandelte.
Da sieht man etwa ewig lange Einstellungen eines im TV übertragenen Fußballspiels, dazu läuft hypnotische Blasmusik und gleich danach erblickt man den Wachmann Carlos, dessen Geschichte erzählt wird und der auf dem Sofa zu den Fernsehbildern onaniert.
Oder man erlebt, wie Carlos das Appartement seiner Geliebten Ana verlässt, vor der Tür auf dem Flur sich seine himmelblaue Hose einnässt, sich dann zurück zu Ana begibt – und das Messer zückt. Vor allem der explizite Sex, der in „Battle in Heaven“ gezeigt wird, hat viele Zuschauer verstört. Man sieht einen erigierten Penis in einem Arthouse-Film. 2005, als der Film in die Kinos kam, war so etwas tatsächlich noch ein echter Aufreger.
In seinem bislang vielleicht eindrucksvollsten Film, „Stellet Licht“ („Silent Light“), begibt sich Reygadas wieder raus aufs Land. Doch anders als in „Japón“ assoziiert er gezeigte archaische Zustände nicht mit Zerfall und Verwesung, sondern taucht fröhlich ein in eine idyllische Landschaft. Allein die Eröffnungssequenz, in dem minutenlang ein beginnender Tag und der Kampf des Lichtes gegen die Dunkelheit inmitten der Natur gezeigt wird, ist atemberaubend.
Inmitten von Mennoniten
Der Film erzählt die eigentlich schlichte Geschichte eines Ehebruchs. Johan hat eine Familie, alles ist so, wie es eigentlich sein sollte. Doch er begehrt eine andere, mit der er ein Liebesverhältnis eingeht. Das alles inmitten der Gemeinschaft von Mennoniten im Norden Mexikos. Man verfolgt das zarte Glück, das Johan in seiner neuen Liebe gefunden hat. Und man sieht ihn gleichzeitig erschüttert in seiner Scham, in seinen Selbstvorwürfen, in seinem Glauben zu Gott.
Die Geschichte wird subtil und behutsam erzählt. Und doch entsteht eine schier unerträgliche Spannung. Auch in diesem Film greift Reygadas wieder auf Nicht-Schauspieler zurück, die Plattdietsch sprechen, einen Dialekt der Mennoniten. Am Ende von „Stellet Licht“ verwandelt sich Reygadas’ neorealistischer Stil dann für einen Moment lang in magischen Realismus. Was dann letztlich auch wieder typisch ist für Reygadas: Stets passiert etwas Überraschendes.
Bei den Vorführungen seiner beiden Filme „Post Tenebras Lux“ und „Nuestro Tiempo“, seinem neuesten Werk, das bislang noch nicht im Kino zu sehen war, wird Carlos Reygadas als Gast im Arsenal sein. Wer seine rätselhaften Filme gesehen hat, dürfte einige Fragen an den Regisseur haben.
Dieser Text erscheint im taz Plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg immer Donnerstags in der Printausgabe der taz
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