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■ Filmstarts a la carteEine neblige Geschichte

Sir Alfred befand in seinen Geprächen mit François Truffaut, dass seine dritte vollendete Regiearbeit „The Lodger – A Story Of The London Fog“ (1926) eigentlich der „erste richtige Hitchcockfilm“ sei. Denn „The Lodger“ war sein erster Thriller, in dem er ebenfalls erstmalig das Motiv eines unschuldig Verfolgten einführte: Der geheimnisvolle „Mieter“ wird nicht nur von seinen Vermietern und von einem eifersüchtigen Polizisten fälschlicherweise als Blondinen-Killer verdächtigt, er bleibt beim spannenden Finale auf der Flucht auch noch mit den Handschellen an einem Eisengitter hängen und muss sich eines wütenden Lynchmobs erwehren. Allerdings war es Hitchcock in „The Lodger“ weniger um das Suspense-Prinzip zu tun, als darum, den Zuschauer auf falsche Fährten zu locken: Die nächtlichen Ausflüge des Mannes mit Cape und Schal, das nervöse Hin-und-Her-Gerenne in seinem Zimmer, sowie die Tatsache, dass er Fotografien von jungen blonden Frauen nicht ertragen kann, legen auch dem Publikum für lange Zeit den Verdacht nahe, der Mysterioso könne tatsächlich der Ripper sein. So gibt es bis zur Auflösung des Geheimnisses auch nur einen durch eine Parallelmontage entstehenden klassischen Suspense-Moment (der allerdings an eine der berühmtesten Szenen in „Das Fenster zum Hof“ erinnert): Während die Vermieterin noch das Zimmer des mutmaßlichen Killers nach etwaigen Beweisstücken durchsucht, sieht man diesen langsam nach Hause zurückkehren. Im Kino Camera (im Tacheles) läuft Hitchcocks Frühwerk am Sonntag im Rahmen einer Stummfilmperformance: Man darf gespannt sein, was die beteiligten Musiker und Schauspieler sich angesichts der mysteriösen „Geschichte vom Londoner Nebel“ ausgedacht haben.

„The Lodger – A Story Of The London Fog“ 28.11. in der Camera (im Tacheles)

Original und Fälschung, Make und Remake. 1927 verfilmte F.W. Murnau in den USA unter dem Titel „Sunrise“ Hermann Sudermanns Novelle „Die Reise nach Tilsit“: Ein Bauer, der von einer sündigen Städterin gedrängt wird, seine Gattin zu ermorden, bringt dies nicht fertig und versöhnt sich statt dessen mit seinem Gespons bei einem Ausflug in die große Stadt. Murnau stellt die – aus der Sicht der beiden Hinterwäldler – großen Abenteuer mit alltäglichen Dingen in den Mittelpunkt seines Films: die erste Fahrt mit einer Straßenbahn, den Besuch bei einem Fotografen, die Jagd nach einem in einer Tombola auf dem Jahrmarkt gewonnenen Ferkel. So entstand – wie es im Untertitel heißt – „A Song of Two Humans“: dramatisch, komisch und anrührend zugleich. 1938 setzte Veit Harlan andere Schwerpunkte: Seine „Reise nach Tilsit“ verbreitet in den Szenen vom ländlichen Leben Blut-und-Boden-Ideologie, die Verführerin gerät ganz im Sinne rassistischer Propaganda der Zeit zur Polin, und das Melodrama regiert.

„Sunrise“ 29.11.; „Die Reise nach Tilsit“ 30.11. im Arsenal

Die Lizenzen laufen aus, und so sind viele von Ingmar Bergmans berühmtesten Filmen wohl auf absehbare Zeit zum letzten Mal in einer Reihe zu sehen, die das Nickelodeon noch bis Ende Dezember zeigt. Eröffnet wird die kleine Retro mit „Das Lächeln einer Sommernacht“ (1955), einem von Bergmans größten Kassenschlagern. Eine Komödie um unpassende Paare, um trottelige Männer und lebenskluge Frauen und um verschiedene Konzeptionen der Liebe, die – wie die Schauspielerin Desiree (Eva Dahlbeck) in einer ihrer Rollen zu sagen hat – „ein ununterbrochenes Spiel mit drei Bällen ist, die den Namen tragen: Verstand, Herz und Schoß“

Ingmar-Bergman-Reihe vom 25.11.-29.12. im Nickelodeon

Lars Penning

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