■ Filmstarts à la carte: Lebenslügen
Nicolas besichtigt Wohnungen. Die erscheinen ihm allerdings stets zu dunkel, zu hell, zu klein, zu groß oder zu teuer - eigentlich will er bloß nicht mit seiner Frau zusammenleben. Die erfolgreiche Geschäftsfrau Odile sucht tatsächlich eine neues repräsentatives Domizil - nur blöd, dass sich ihr Mann Claude gerade mit dem Gedanken trägt, sie zu verlassen, und dass sie sich zudem in einem Gestrüpp hochnotpeinlich- komischer Irrtümer verheddert, die ihre ganze Unsicherheit offenbaren. Odiles Schwester Camille schreibt derweil eine Doktorarbeit mit dem Titel „Die Freisassen am Lac Paladru des Jahres 1000“ - noch im Hörsaal erleidet sie nach bestandener Prüfung den ersten Depressionsanfall. Mit einer gesunden Dosis trockenen schwarzen Humors erzählt Alain Resnais in „Das Leben ist ein Chanson“ von Lebenslügen, abstrusen Mißverständnissen und von Schein und Sein. Selten hat man sich über Ehekrisen, Depressionen und unglücklich Verliebte derart amüsieren können. Und das nicht zuletzt deshalb, weil der französische Regisseur die innerfilmische Realität immer wieder durch die Verwendung von Original- Fragmenten populärer Chansons aufbricht, die er seinen Figuren in den Mund legt. Die Lieder erfüllen verschiedene Funktionen: Sie entsprechen der Stimmung (“Le blues du blanc“), erklären die Situation (Claude denkt mit Serge Gainsbourgs „Je suis venu te dire que je m‘en vais“darüber nach, Odile zu verlassen) oder charakterisieren eine Figur (wenn der schnöselige Immobilienmakler Marc „J‘aime les filles“ singt, weiß man sofort, daß er der falsche Mann für Camille ist). So wichtig wie die Chansons sind allemal die Dekors von Jacques Saulnier, in denen sich die Lügen und Verstellungen der Charaktere buchstäblich wiederfinden lassen. So erweist sich der angeblich wundervolle Ausblick auf Sacre-C£ur bei einer Wohnungsbesichtigung als derart verbaut, dass sich Nicolas unter artistischen Verrenkungen über den Balkon beugen muss, um die Kirche überhaupt zu erblicken. Und in Odiles neuem Domizil wird der tolle Panoramablick auf Paris auch nicht von Dauer sein: Die Wohnung ist nur deshalb ein so günstiges Schnäppchen, weil auf der gegenüberliegenden Seite eine Reihe häßlicher Hochhäuser geplant sind. Mit totaler Künstlichkeit zur Wahrheit: ein kühnes künstlerisches Konzept von Resnais und Saulnier.
„Das Leben ist ein Chanson“3.2., 5.2. im Filmkunsthaus Babylon
Lebenslügen geben sich auch die Charaktere in Seijun Suzukis bizarrem Gangsterfilm „Tokyo nagaremono“ aus dem Jahr 1966 hin. Ähnlich wie in den Filmen von Jean-Pierre Melville fahren hier coole Männer mit Hut und Mantel, mit großen Pistolen und dunklen Sonnenbrillen in gewaltigen Straßenkreuzern durch stilisierte Landschaften im Scope-Format und hängen vergeblich Träumen von Loyalität und Freundschaft nach. In krassem Gegensatz zum existentialistischen Lebensgefühl des Helden, das sich auch gern einmal durch Absingen einer traurigen Ballade Bahn bricht, steht allerdings die poppig-bunte Gestaltung der Dekors: Bars scheinen hier aus Prinzip rosafarben zu sein.
„Tokyo Drifter“ (Om engl U) 6.2. im Arsenal
Kino umsonst bietet die Camera im Tacheles künftig an jedem ersten Sonnabend im Monat zu später Stunde und präsentiert eine Reihe mit japanischen Filmen aus den Neunzigern. Im Abendprogramm des Folgetages wird der Film dann noch einmal wiederholt - ebenfalls bei freiem Eintritt. Los geht‘s mit Toshiyuki Mizuzanis „Das Familiengeheimnis“, einer ironischen Familiengeschichte, die ihren Ausgangspunkt in der Fahrerflucht eines Mannes nach einem Unfall nimmt.
„Das Familiengeheimnis“ (OmU) 5.2-6.2. in der Camera im Tacheles
Lars Penning
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