Filmstart „No Turning Back“: Er sah aus wie ein Pferd
Eine Figur, ein Schauplatz, 90 Minuten Echtzeit: Steven Knights Film „No Turning Back“ erkundet einen Mann in der Krise.
„Ich habe eine Liste mit Dingen zu erledigen, während ich fahre“, sagt der Protagonist in Steven Knights Ein-Personen-Stück „No Turning Back“, und dabei spiegeln sich die Lichter der Nacht auf seinem Gesicht.
Das ist eine überschaubare Prämisse für einen Film, selbst wenn dieser nur knapp 90 Minuten dauert – also etwa die Länge eines Fußballspiels, was in „No Turning Back“ tatsächlich eine Rolle spielt. Ivan Locke, so der Name der Hauptfigur von Knights Film (der im Original einfach nur „Locke“ heißt), vertritt gewissermaßen die klassischen Tugenden des englischen Fußballs. „Er lief unaufhaltsam auf das Tor zu“, beschreibt sein Sohn am Telefon aufgeregt das Siegtor seiner Mannschaft, das der Vater nicht im Kreis der Familie erleben kann. „Er sah aus wie ein Pferd.“
Ähnliches könnte man auch über Locke sagen, der mit einer unumstößlichen Zielstrebigkeit seine „Liste“ abarbeitet, während er seelenruhig seinen BMW-SUV durch den nächtlichen Verkehr zwischen Birmingham und London manövriert.
Tom Hardy spielt diesen Locke als einen Mann, der unter Druck bestens funktioniert. Ein Alphatier, das selbst auf dem Fahrersitz noch demonstrativ die Ärmel hochkrempelt. Am nächsten Morgen wird in Birmingham auf der größten Baustelle Europas ein 355 Tonnen schweres Betonfundament gegossen. Aber Locke, der Bauleiter des Projekts, hat in dieser Nacht persönliche Verpflichtungen. Der deutsche Titel „No Turning Back“ könnte nicht plakativer gewählt sein: Der Mann kann nicht zurück. Das klingt schicksalhaft, ist aber kühl und konsequent inszeniert wie Lee Marvins Marsch durch die Institutionen in „Point Blank“. Nur eben im Auto.
„No Turning Back“. Regie: Steven Knight. Mit Tom Hardy. Großbritannien 2013, 83 Min.
+++Vorsicht Spoiler+++
Locke hat in einem emotionalen Drahtseilakt verschiedene Aufgaben von unterschiedlicher Tragweite gleichzeitig zu bewältigen. Sobald er hinter dem Steuer seines BMW sitzt, tritt er in einen fortlaufenden Dialog mit seiner Freisprechanlage. Am anderen Ende, abwechselnd: sein Vorgesetzter, dem er beibringen muss, dass er in den entscheidenden Stunden des Bauprojekts nicht an Ort und Stelle sein kann; sein überforderter Vorarbeiter, den er nun Schritt für Schritt durch den Arbeitsablauf leiten muss; sein Sohn, der zuhause vor dem Fernseher für ein Fußballspiel der Lieblingsmannschaft auf ihn wartet; eine verängstigte Frau, die sich auf dem Weg in den Kreißsaal befindet; und seine Ehefrau, der er am Telefon einen folgenschweren Fehltritt beichten muss. Denn Locke ist auf dem Weg ins Krankenhaus, um einer Frau, die er kaum kennt, bei der Geburt ihres gemeinsamen Kindes beizustehen.
Der Vater fährt mit
Das ist ein ambitioniertes dramatisches Konstrukt, noch dazu in Echtzeit erzählt, das mit weniger stilistischer Konsequenz, als Knight sie an den Tag legt, leicht unfreiwillig komisch wirken könnte. Zumal auf dem Rücksitz noch ein imaginärer Beifahrer sitzt, dem Locke etwas zu beweisen hat: sein toter Vater. „Ich habe mich in einer Weise verhalten, die nicht zu mir passt“, erklärt er seinem aufgebrachten Vorgesetzten, der auf dem Display der Freisprechanlage als „Bastard“ angezeigt wird. Eigentlich gilt der Satz seinem Vater.
Spätestens da ist klar, dass „No Turning Back“ trotz seines hohen Einsatzes doch wieder nur auf den ältesten Konflikt des abendländischen Dramas, einen Vater-Sohn-Konflikt, zurückfällt. Lockes moralisches Dilemma besteht darin, dass er um jeden Preis ein besserer Mensch als sein Vater sein will, dafür aber die Menschen verletzen muss, die ihm am nächsten stehen.
Also betont Knight immer wieder Lockes Anständigkeit (es gab nur diesen einen Fehltritt), um seinen (einzigen) Protagonisten letztlich als positive Identifikationsfigur etablieren zu können. Das funktioniert nur bedingt. Hinter Hardys undurchdringlicher Mimik kommt eine professionelle Geschäftsmäßigkeit zum Vorschein, selbst wenn er mit seiner Frau seine eigene Absolution aushandelt.
Der Kameramann Haris Zambarloukos versteht es, dem beengten Raum durch Lichtreflexionen, Spiegelungen auf der Windschutzscheibe, Verkehrslichter und rasche Brennweitenwechsel eine berauschende Tiefe zu verleihen. Doch sein irisierender visueller Minimalismus ist an eine enttäuschend eindimensionale Hauptfigur verloren. Am Ende schreit ein Baby, und ein Fußballspiel ist gewonnen. Fragt sich bloß, ob der erzählerische Aufwand nötig war, nur um wieder mal die kriselnde Männlichkeit zu retten.
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