Filmfestival von Locarno: „Goldener Leopard“ geht an Südkorea

Das „Festival del film“ von Locarno ist zu Ende. Neben dem sehenswerten Gewinnerfilm gab es auch noch andere Highlights.

Der Gewinner des Goldenen Leoparden Hong Sang-soo

Hong Sang-soo erhielt den „Goldenen Leoparden“ in Locarno für seinen Film „Right Now, Wrong Then“ Foto: dpa

Der Wettbewerb eines Filmfestivals gehorcht oft einer merkwürdigen Gesetzmäßigkeit. Um einen Sieger zu küren, braucht er eine Jury aus Fachpersonal, mit Vorsitzendem. Weil aber auch die Kinobesucher urteilen sollen, gibt es häufig den beliebten Publikumspreis. Hier herrscht dann richtige Demokratie: Kleine, ausgefüllte Zettel werden beim Ausgang in Wahlurnen geworfen. Am Ende gewinnt dann dort wie da nicht der Beste – weil es ihn nicht gibt.

Bevor in Locarno am Samstagabend der renommierte Goldene Leopard überreicht wurde, war auf der Leinwand jedoch ein ganz anderer Wettbewerb zu beobachten: Die Regisseurin Athina Rachel Tsangari, seit ihrem Adoleszenzdrama „Attenberg“ als eine der wichtigsten Vertreterinnen des neuen griechischen Kinos gefeiert, schickt in „Chevalier“ eine Gruppe von Männern in einen Wettkampf.

Mitten im Ägäischen Meer beschließen sechs reiche Herren auf einer Luxusyacht, sich die Heimreise mit einem Spiel zu verkürzen: Jeder darf den anderen in jedem Augenblick und zu jedem Anlass bewerten. Dem sofort einsetzenden, ständigen Überwachen folgt das Strafen in Form einer Punktevergabe. Am Ende, im Hafen von Athen, soll der Gewinner gekürt und den Ring des Sieges, den „Chevalier“, tragen dürfen.

Es ist ein zwiespältiger Eindruck, den dieser thesenhafte Film hinterlässt. Nein, das sei kein Kommentar zur Lage Griechenlands, erklärte Tsangari in der Pressekonferenz, und man konnte ihr die leichte Verstimmung darüber anmerken, diese Antwort fortan noch Tausende Male geben zu müssen.

Den jungen Helden erwartet ein extravagantes Figurenkabinett: ein Dienstmädchen mit entstelltem Mund, eine in Starre verfallende Mutter, ein sich in Wortneuschöpfungen übender Vater, eine die Sinne raubende Tochter

Doch natürlich drängen sich Analogien auf, die „Chevalier“ aber wiederholt zu unterlaufen versucht. Das bekannte Kammerspiel-Szenario nutzt Tsangari für eine Studie über ein Bild von Männlichkeit, das Männer für sich selbst entwerfen.

Doch dieses Bild bleibt unscharf, weil Tsangari dessen Zeichnung in erster Linie ihren Darstellern überantwortet. Zwar führt die Konkurrenzsituation irgendwann zu einer lächerlichen körperlichen Auseinandersetzung und zu einem halbherzigen Seelenstrip, doch Tsangari bleibt stets auf Distanz. Die reiche Schale dieser Figuren bleibt bis zum Schluss ihr Kapital.

Leuchtende Farben, milchiges Licht

Eine völlig andere Perspektive auf das ambivalente Verhältnis von Mann und Meer zeigte „Dead Slow Ahead“, ein Dokumentarfilm des Spaniers Mauro Herce. Diese ästhetisch und formal außergewöhnliche Arbeit (wie der bemerkenswerte deutsche Beitrag „Nachtmahr“ von Akiz in der Wettbewerbssektion „Concorso Cineasti del presente“ zu sehen) verfolgt die Fahrt eines riesigen Frachtschiffs über den Atlantik.

Die Zeit, der die Männer bei Tsangari überdrüssig sind, wird in „Dead Slow Ahead“ vom monotonen Rhythmus der Maschinen und Motoren bestimmt, die das stählerne Ungetüm übers Wasser schieben.

Die wenigen Männer, hauptsächlich Philippiner, die sich nie zu einer Gemeinschaft formen und deren Stimmen man nur hört, wenn sie in der Neujahrsnacht nach Hause telefonieren, sind im Gegensatz zu Tsangaris Elite die letzte Reserve. Die leuchtenden Farben, das milchige Licht des Horizonts und ein dumpfes Sound-Design generieren eine faszinierend unheimliche Atmosphäre.

Solche Entdeckungen braucht Locarno – nicht weniger aber auch Filme von Autoren mit klingenden Namen. Wie Andrzej Żuławski, der seit fünfzehn Jahren keinen Film gedreht hat. Sein lange erwarteter „Cosmos“ passte hervorragend in die Ausrichtung des Wettbewerbs.

Denn bis auf wenige Ausnahmen dominierte hier ein experimentierfreudiges Kino, das neben Arbeiten junger Regisseure auch jene renommierter Filmemacher beinhaltete, wie Otar Iosseliani mit seiner Groteske „Chant d‘Hiver“ oder Chantal Akerman mit ihrem Porträtfilm „No Home Movie“.

Dass es Żuławski, mit dem Preis für die Beste Regie ausgezeichnet, dennoch gelang, aus dieser Fülle herauszuragen, liegt an seinem nach wie vor kompromisslosen Zugang, mit dem er sich dem 1965 erschienenen Roman von Witold Gombrowicz nähert.

Żuławskis Interpretationn (eine klassische Adaption wäre auch kaum vorstellbar) verstört allerdings nur dann, wenn man nicht bereit ist, diesen Figuren zu folgen. Begleitet man sie hingegen auf ihrer wahnwitzigen Reise, erkennt man in ihnen die Sehnsucht nach radikaler Freiheit.

Erhängten Spatzen sind Vorboten des Irrsinns

Żuławski schickt seinen jungen Helden Witold (Jonathan Genet), einen Studenten mit stechendem Blick, gemeinsam mit seinem Kollegen (Johan Libéreau) in eine Familienpension, wo sie ein extravagantes Figurenkabinett erwartet: ein Dienstmädchen mit entstelltem Mund, eine in Starre verfallende Mutter, ein sich in Wortneuschöpfungen übender Vater, eine die Sinne raubende Tochter.

Die erhängten Spatzen hinter dem Haus sind Vorboten und Teil dessen, was die Ankömmlinge an Irrsinn erwartet. „Cosmos“ sollte als schwarze Satire so ernst genommen werden wie sein großartig beißender Humor.

Eine gänzlich andere Form von bizarrer Komik bewies der Italiener Pietro Marcello, der mit „Bella e perduta“ den wehmütigsten Wettbewerbsbeitrag präsentierte. Marcellos Komik ist nämlich voller Traurigkeit: Pulcinella (Laienschauspieler Sergio Vitolo), der dumme Diener, wird nach Kampanien geschickt, um einen kleinen Büffel zu retten.

Dessen Herr hatte sich – im Kampf zwischen Camorra und Staat – bis zu seinem Tod erfolgreich um die Rettung eines verfallenden Landsitzes bemüht und das Tier bei sich aufgenommen. Pulcinella bringt den Büffel also in den Norden, muss aber erkennen, dass diese Welt längst zu klein ist für alles Nichtmenschliche, weil die Menschen unmenschlich geworden sind.

Vielleicht bekommen sie ja irgendwann Flügel und fliegen für immer davon, erträumt sich am Ende der Reise der große und stolze Büffel. Es sind die zärtlichsten Worte, die man im Laufe der Festivaltage zu hören bekam, in einem der zärtlichsten Filme, die man sich wünschen konnte.

Dass am Ende der südkoreanische Filmemacher Hong Sang-soo für „Right Now, Wrong Then“ (Jigeumeun matgo geuttaeneun teullida) mit dem renommierten Goldenen Leoparden ausgezeichnet wurde, war übrigens eine sehr gute Entscheidung der Jury rund um Udo Kier und US-Regisseur Jerry Schatzberg. Denn hier wurden auch die Unbeirrbarkeit und Kontinuität gewürdigt, die seit vielen Jahren Hongs Arbeiten bestimmen.

Der Verstand macht Pause, das Leben tritt ein

Seine Erzählungen kreisen oft um Einzelgänger (Künstler, Regisseure, Intellektuelle), die es an einen anderen Ort verschlägt, um dort erst recht auf sich selbst zurückgeworfen zu sein.

Doch das hat eher etwas Tragikomisches, denn Hongs Filme sind Typenkomödien, in denen meist nicht nur reichlich gegessen und getrunken wird, sondern in denen man immer spürt, dass jedes Ende einen Neubeginn darstellt. Ein bisschen Autobiografie darf man sich bei diesen Filmen natürlich stets dazudenken.

In „Right Now, Wrong Then“ landet ein Regisseur (Jung Jae-young, der auch den Preis für den Besten Darsteller erhielt), aus Versehen einen Tag zu früh in Suwon, wo die Vorführung seines Films mit anschließender Diskussion stattfinden soll. Ein für Hong typisches Szenario: die Kunst und der Verstand machen Pause, das Leben tritt ein.

Der Filmemacher im Film besucht einen Tempel, lernt eine junge Frau kennen, man geht essen und kommt einander näher – bis der verheiratete Regisseur sich schließlich mit sich selbst konfrontiert sehen muss.

Und dann beginnt dieser Film noch einmal. Ein bekannter, aber effektiver Trick. An denselben Orten, aber dennoch anders. Ist das richtig oder falsch? Jedenfalls gegen die Gesetzmäßigkeit des Lebens.

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