Filmfestival in Istanbul: Fantastische Sozialkritik
Seit den 90ern kann das türkische Kino auch international mithalten. Das Istanbuler Filmfestival zeigte dies in einer Mischung aus Sozialkritik und symbolbeladenen Fantasiebildern.
In Sachen Filmproduktion, die auf internationalen Festivals eine Rolle spielt, ist die Türkei nach Jahrzehnten voller belächelter Schmachtfetzen erst seit Mitte der Neunzigerjahre mit von der Partie, seitdem aber kontinuierlich und vor allem erfolgreich. Heute spricht man schon von einer zweiten Generation von Arthouse-Filmemachern, möglicherweise sogar von einer "Istanbul School", in vielen Belangen vergleichbar mit der "Berliner Schule": ein Autorenkino, das Förderfonds, Kritiker und Preisrichter immer wieder für sich einnimmt, dabei aber selten Box-Office-Lieblinge hervorbringt.
Schaute man sich auf dem am Samstag zu Ende gegangenen diesjährigen 28. Filmfestival von Istanbul durch die Beiträge im nationalen Wettbewerb, fand man dafür auch wieder einige Gründe: ein oft ermüdend kunstwollendes, erdenschweres, vor "Hüzün", der türkischen Form von Melancholie, triefendes Cinéma d'auteur. Weite Landschaften, klassische Kadrierungen, viel Ruhe in den Einstellungen, viel mit Tiefe verwechselter Ennui in nur skizzierten Geschichten.
Aber es gab auch Entdeckungen zu machen. "Men On The Bridge" beispielsweise, ein schöner, sehr instinktsicher inszenierter Semidokumentarfilm, der über das Parallelporträt dreier Männer, die auf der Bosporusbrücke als Sammeltaxifahrer, Polizist und Rosenverkäufer ihren Lebensunterhalt verdienen, eines der ewigen Themen des türkischen Kinos angenehm nüchtern und realitätsnah weiterführte: die Stadt Istanbul als Sammelbecken für Millionen Kleinstbürger, die hart für ihren sozialen Aufstieg rackern. Ein guter Gewinner des nationalen Wettbewerbs.
Dem gleichen Thema widmeten sich auch "Black Dogs Barking" und "Children of the Other Side", fürs türkische Kino recht untypisch im Genrefilmmuster des rasanten Aufsteigerdramas. Beide zeichneten ein fast identisches Bild männlicher Sozialisation in Istanbuls Post-Gecekondu-Gegenden (Tauben züchten, zur Armee gehen, beständig rauchen, Sicherheitsmann in einer Shopping-Mall werden wollen), scheiterten aber an ihrer klischeehaften Darstellung des Aufstiegskampfes: Trotz viel Gebrüll und Gewalteinsatz schaffen es die Protagonisten in ihren Fake-Lederjacken nicht, ihre Ehre und ihren Traum vom besseren Leben gegen die Typen, die in Anzügen stecken, zu verteidigen.
Bei den Autorenfilmen ging es fast ausschließlich um Adoleszenz und die Spannung zwischen Stadt und Land. "Pandora's Box" von der Regisseurin Yesim Ustaoglu verhandelte dieses Thema mit Abstand am "modernsten" als Generationenkonflikt eines neuen, städtischen Mittelstands und dessen noch im Dorf lebenden Großeltern.
Andere Filme bedienten sich einer wundersamen Hybridform aus Fabel und Charakterstudie. Wie Semih Kaplanoglu "Milk", den zweiten Teil seiner Trilogie über das Kind/den Mann Yusuf, mit großen, symbolistischen Bildern bestückte, das war gleichermaßen eindrücklich wie sympathisch "too much": In "Milk" werden Frauen an ihren Füßen über dampfenden Kesseln aufgehängt, bis sich Schlangen aus ihrem Mund winden, und Yusuf, ein dunkeläugiger, dichtender Jungmann, fängt mit bloßen Händen riesige Fische, die er erst wie Babys wiegt und sie dann seiner Mutter darbringt.
"Die Schattenlosen", die Verfilmung eines Romans von Hasan Ali Toptas, verflicht die Handlungsebenen "Stadt" und "Land" so lange zu einer surrealen Fantasmagorie, bis zum Schluss die Dorfschöne einen Bären gebiert - eine quasi atavistisch verfasste dörfliche Gemeinschaft reagiert auf die Rückkehr einiger Städter, in dem sie ein schlichtes "Whodunnit" (Wer im Dorf hat die Schöne verführt?) eben nicht rational aufklärt, sondern einen Mythos Realität werden lässt (Es war der Bär!).
Ebenfalls nah am Wahnsinn, allerdings ohne jede Komik, operiert "My Only Sunshine" von Reha Erdem, der bereits bei der Berlinale im Forum lief. Die 14-jährige Hayat spricht in knapp zwei Stunden kaum zehn Sätze, während sie von ihrem Vater, einem Zuhälter für die auf dem Bosporus ankernden Containerschiffe, ihrem asthmatischen Großvater und weiteren Männern in ihrer slumähnlichen Nachbarschaft missbraucht und vernachlässigt wird. Weite Bilder, ein fast unheimlich präsentes Sounddesign, ein merkwürdiges Mädchen, das Pubertät und familiärer Situation mit hospitalistischem Summen begegnet: Dieser Film hätte leicht schrecklich ausfallen können, entwickelt aber eine saugende Intensität.
Wollte man der unbedingten Signifikanz und den immergleichen Istanbul-Bildern der Spielfilme entfliehen, konnte man sich in der Dokumentarfilm-Sektion des Festivals austoben. Den nachhaltigsten Eindruck machte hier "Prison Nr. 5", ein Film des kurdischen Regisseurs Çayan Demirel. Es geht darin um ein Foltergefängnis für PKK-nahe Insassen während der Militärherrschaft von 1980 bis 1984. Er schien das Publikum kalt zu erwischen. Viele weinten laut.
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