Filmfeste Biographien: Die Schulzeit als lebenslange Talkshow
■ Leben und Fiktion: Persönliche Geschichte, soziale Geschichte
Jemandes Biographie ist nicht deren oder dessen Leben. Es ist die Erzählung dieses Lebens. Die Biographie kann öd sein, auch wenn das Leben viel hergibt, und in Grenzen auch andersherum.
„Ich träume davon, den großen Roman zu schreiben, auf den alle warten“, sagt eine junge Frau einige Jahre nach Ende ihrer Schulzeit in einem Satellitenvorort Stockholms. Aus einer Klasse, deren ersten Schultag in den Herbst des Jahres 1972 fällt, gehört sie zu den wenigen, deren Ambition die Schulzeit in dieser Deutlichkeit überlebt hat. Die meisten der Kinder von Jordbro, die Rainer Hartleb über 24 Jahre begleitete, haben sich mit äußerst schlichten Lebensentwürfen eingerichtet, falls sie überhaupt welche haben. Im neuen Schnitt des akkumulierten Materials dauert die Vorführung mehr als sechs Stunden.
Hartleb kommt dicht an die Schulkinder heran und erwischt mit seinem Mikrofon die unwahrscheinlichsten Dialoge und Flüstereien. Ohne Off-Kommentar erzählt der Film Szenen aus dem Alltag, verschnitten mit Interviews, in denen fast ausschließlich die Kinder selbst zu Wort kommen, manchmal auch Eltern. Die barocke Phantasie der Sechsjährigen kontrastiert mit dem durch keine Skrupel behinderten sozial- instrumentellen Verstand der Zehnjährigen.
Spätestens aber mit der Pubertät der Kinder von Jordbro kommt die Frage auf, was genau Rainer Hartleb eigentlich in Erfahrung bringen will: die Optionen des Einzelnen, die Psychodynamik einer Schulklasse, die determinierende Kraft einer sozialen Randlage (nicht Land, nicht Stadt)? Sobald die Stilfrage in die Hand der Kinder übergeht, schlägt die Klassenfrage durch, mit einer erschreckenden Wucht. Aus fröhlichen, drahtigen Mädchen werden aufgeschwemmte Kleinbürgerinnen. Mit der Wahl zwischen dem „theoretischen“ und dem „praktischen“ Zweig des schwedischen Gymnasiums (eigentlich einer High School) wird die Klassenschranke zementiert.
Gerade der flächendeckende Ehrgeiz des Jordbro-Projekts in seinem Anfang — 25 Kinder! — erweist sich in dem Moment als großer Nachteil, als es persönliche Geschichte und soziale Geschichte zu trennen gilt.
In einem Längsschnittessay probiert sich Hartleb an der Geschichte von Mona Jönsson, was insofern vielversprechend ist, als es gutes frühes Interviewmaterial mit Monas Mutter gibt. Von Mona selbst gibt es eine feine Sequenz, in der sie erzählt, wie sie geträumt habe, ihre — getrennten — Eltern seien Kartoffeln und würden sich gegenseitig essen („Am Ende war nichts mehr übrig.“). Aber gerade diese Stelle im Film belegt, daß das mit Mona gedrehte Material nicht reicht zum Zeichnen eines Kindheitsmusters. Daß sie ihr eigenes Kind als eheliches zur Welt bringt, wird wie ein Clou ihrer Geschichte präsentiert.
Die interessanteste Figur ist ein melancholischer Junge namens Peter. Mit 14 wird er beim Klauen einer Tafel Schokolade erwischt und kurz darauf bekommt er einen Taschengeldjob im gleichen Supermarkt. Im Teenager-Teil des Projekts eine kaum begreifliche Episode, wird die Geschichte später ergänzt: der Junge ist im Supermarkt entehrend als Dieb vorgeführt worden und hat darauf hin versucht, sich das Leben zu nehmen. Der Marktleiter hat davon gehört, und deshalb die überraschende Entwicklung. Peter erzählt die Geschichte übrigens selbst, als er in den Zwanzigern ist. Er erzählt auch, wie er zwei Schwule niedergeschlagen hat. Nach dem Knast hat er einen guten technischen Job erwischt — jetzt fährt er einen blauen Pontiac Trans Am und will keine Kinder. Im Ohrläppchen einen Ring.
Das wirft zwei Fragen auf: Wie wird der melancholische Bub mit der dunklen Wolke zwischen den Augenbrauen zu einem Hardcore-Hedonisten mit Phallusproblem? Und da es so gekommen ist, wie kann es sein, daß Peter diese Geschichten dem nationalen Fernsehen anvertraut?
Mein Verdacht ist, daß Hartleb nicht richtig bemerkt, wie ihn seine Protagonisten als Plattform benutzen, um ihr Schulklassenleben in eine lebenslange Talkshow zu verwandeln. Die Protagonisten fiktionalisieren sich in dieser Begegnung. Da sie sich gegenseitig kennen, ist dies Projekt ihre kollektive Biographie. Hartleb filmt dann, gegen Ende, minutenlang diverse Babymünder (Die Enkel von Jordbro), um — das sagt er als Festivalgast — zu zeigen, wie der Kreis sich schließe. Daß das Leben weitergeht, ist als Quintessenz eines Films, der dem Betrachter einen Arbeitstag abverlangt, dann aber doch zu mager.
Insofern ist „Die Kinder von Jordbro“ leichter zu sehen, wenn man das Thema dieser Kolumne beiseite legt. Der Film rührt an so seltsame Fragen wie die, ob nicht jeder Mensch ein „ideales Lebensalter“ hat, eine Art Blüte der sozialen und biologischen Entität. Man fragt sich, ob die soziale Energie der Kinder, die wir in ihnen spüren, auf eine Täuschung zurückgeht; oder ob sie mit einem Geheimnis geboren werden, das sie als Opfer ihrer Klasse notwendig verlieren an die Stereotypie. Ulf Erdmann Ziegler
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