Film über einen intersexuellen Teenager: Er, sie, Alex
Lucía Puenzo erzählt in ihrem Spielfilm "XXY" von einem intersexuellen Teenager. Sein Körper ist ein Problem, aber auch Objekt des Begehrens.
Biologisch uneindeutige Geschlechtszugehörigkeit, kurz: Intersexualität, wird in Literatur und Kino als Thema sträflich vernachlässigt. Große Ausnahme: Jeffrey Eugenides 2002 erschienener Bestseller-Roman "Middlesex", dessen Icherzähler Calliope zunächst Mädchen, später Mann ist. Die jüngeren Filme, an die man im Zusammenhang mit Zwischengeschlechtlichkeit und Gender Trouble denkt, "Boys Dont Cry", "Transamerica" oder "Hedwig And The Angry Inch", verhandeln indes keine "richtige" Intersexualität, sondern Schicksale von Menschen, die sich mit ihrem biologisch eindeutigen Geschlecht nicht identifizieren können. Transsexualität also. Die Zwitterhaftigkeit etwa der Hauptfigur Hedwig in John Cameron Mitchells Camp-Musical liegt in einer schiefgelaufenen Mann-zu-Frau-Geschlechtsumwandlung begründet, bei der ein Stummelpenis übrig blieb. Die Frage: "Mikropenis oder ungewöhnlich große Klitoris?" ist aber auch die Frage, die bei der klinischen Beurteilung "echter" Intersexueller immer wieder auftaucht.
Erstaunlich, dass ausgerechnet aus Argentinien, einem Land, das bislang wenig als Hort fortschrittlicher Geschlechterdiskurse bekannt war, ein Film kommt, der sich genau dieses Komplexes annimmt: "XXY" ist eine wunderbar unaufgeregt erzählte Coming-of-age-Geschichte, die in melancholischen Bildern die Selbstfindung der intersexuell veranlagten Alex begleitet. Vor einer geschlechtsangleichenden Operation, zu der Ärzte den Eltern betroffener Kinder oft gleich nach der Geburt raten, haben ihre Eltern sie bewahrt. Mit "Alex" hat sie einen Namen, der auch noch passen wird, falls sie beschließen sollte, als Mann zu leben.
Und so weit ist es in "XXY" nun fast: Alex ist Teenager und setzt eigenmächtig die Cortisol-Pillen ab, die ihre hormonelle Vermännlichung bislang in Schach halten. Die Eltern entpuppen sich nun als doch nicht so unparteiisch, wie sie schienen: Der Vater freundet sich nur allmählich mit dem Gedanken an, dass Alex sein Sohn ist, die Mutter möchte viel lieber weiterhin eine Tochter haben. Unterstützung erwartet sie sich von einem befreundeten plastischen Chirurgen, den sie mit dessen Frau und Sohn ins Haus der Familie einlädt. Doch während Alex immer selbstsicherer und "männlicher" wirkt und die Erwachsenen immer mehr Hemmungen entwickeln, sie in ein Gespräch über einen mögliche Operation zu verwickeln, wirft Alvaro, der gleichaltrige Sohn der Gäste, ein Auge auf Alex. Deren pubertierender Körper scheint plötzlich nicht mehr problematisiert, sondern sehr begehrenswert und voller Neugier auf Sex. Und schon fangen die Geschlechts- und Genderzuschreibungen an zu tanzen: Alex und Alvaro beginnen eine Affäre.
Nicht alles an "XXY" ist gelungen: Die Regisseurin Lucía Puenzo schießt in ihrem Drang, ein perfektes Setting für die Handlung zu finden, deutlich übers Ziel hinaus, wenn sie ihn am Meer, zwischen Land und Wasser, spielen lässt und Alex Vater dann auch noch Meeresbiologe sein muss, der sich ausgerechnet mit Schildkröten beschäftigt, deren Geschlecht von außen oft nicht bestimmbar ist. Hinzu kommt, dass in der ersten Hälfte die Farbigkeit zugunsten eines permanenten Donnerwetterdräuens arg ins Monochrome gedimmt ist. Doch stört all dieser bedeutungsschwere Symbolismus nicht mehr, sobald die in ihrer Rolle der/des Alex grandios leichtfüßige Inés Efron mit halb traurigem, halb aggressivem Blick beginnt, das Geschehen zu dominieren.
In den Gesprächen über Alex fallen die Erwachsenen immer wieder vom "sie" zu "er" und umgekehrt - sie wissen nicht, wie sie anders über das Kind reden sollen. Der Film macht so deutlich, wie die Unzulänglichkeit der wenigen Begriffe, die Sprachen für Geschlechtsbeschreibungen anbieten, intersexuellen Menschen immer wieder unrecht tut. Wo die Sprache keinen Spielraum lässt, will aber auch die Medizin keinen lassen: Tatsächlich werden intersexuelle Kinder auch in Europa in den meisten Fällen noch einer "Normalisierung" unterzogen, einer operativen Herstellung äußerlicher geschlechtlicher Eindeutigkeit, und dies häufig auf Kosten ihrer späteren sexuellen Empfindsamkeit und auch ihrer Reproduktionsfähigkeit. Warum das alles so sein muss, stellt "XXY" ganz unverkrampft, beinahe beiläufig in Frage: Alex Vater erinnert sich dem befreundeten Chirurgen gegenüber mit leuchtenden Augen an die Geburt des Kindes: "Sie war perfekt - vom ersten Moment an, als ich sie sah."
Der Film bekam in Cannes letztes Jahr völlig zu Recht den Großen Preis der Semaine de la Critique, denn das Überzeugende an ihm ist, dass er nicht zum Lehrstück für den richtigen Umgang mit Kindern uneindeutigen Geschlechts wird, keine populärwissenschaftliche Aufbereitung klinischer Befunde bietet. "XXY" behandelt ganz klar ein Einzelschicksal - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Er begleitet die Pubertät eines Individuums, das gerade beginnt, seine eigene Normalität zu definieren und zu verteidigen. Wozu durchaus auch gehört, dass Alex im Laufe des Films nicht nur Opfer, sondern auch Täter wird. Zum einen, wenn sie Alvaro beim ersten gemeinsamen Sex unerwartet dominiert, was diesem aber überraschenderweise ziemlich gut gefällt. Zum anderen, wenn sie daraufhin viel zu sehr mit sich und ihrem Körper beschäftigt ist, um zu bemerken, dass Alvaro sich tatsächlich heftig in sie als Person verliebt hat - nicht als Freak der Natur. Das Misstrauen der eigenen Anatomie gegenüber spiegelt sich im Umgang mit der Umwelt und vor allem mit dem eigenen Lover und macht so etwas wie Liebe scheinbar unmöglich. In "XXY" kommt niemand ohne Narben davon. Ob mit oder ohne Operation.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen