Film über Heino Jaeger: Fundamentaldissident von St. Pauli
Heino Jaeger war Maler, Kabarettist, Bürgerschreck – und für niemanden zu fassen. Der Dokumentarist Gerd Kroske sammelt die biografischen Splitter ein.
An den Telefonseelsorger Dr. Jaeger konnte sich wenden, wer nicht mehr weiter wusste. So schildert eine Frau Probleme mit ihrem kürzlich pensionierten Ehemann, der früher bei der Passabfertigung tätig war und den Wegfall seiner Dienstroutine seitdem durch ein häusliches Kontrollregime überkompensiert.
Im Flur des unverbesserlichen Grenzschützers steht nun ein selbstgezimmerter Abfertigungsschalter. Will die Gattin ins Wohnzimmer, muss sie jedes Mal den Pass vorzeigen. Gäste, die zu Besuch erscheinen, erhalten im günstigsten Fall zeitlich begrenzte Aufenthaltsgenehmigungen in Form von Laufzetteln. Dr. Jaeger zeigt erst Verständnis für die Beschwerdeführerin, weist dann aber mit Ordnungshüterstrenge auf die unbedingte Gültigkeit des neue Passgesetzes hin: „Ihr Mann ist sogar verpflichtet, die Pässe zu stempeln.“
Dem in den letzten Jahren mehrmals – durch Buchpublikationen und Theaterabende – wiederentdeckten Kabarettisten hinter der 70er-Jahre-Hörfunksendung „Fragen Sie Dr. Jaeger“ hat Gerd Kroske den dritten Teil seiner Hamburger Trilogie gewidmet. Nach Filmen über die St.-Pauli-Lokallegenden Norbert Grupe alias „Der Prinz von Homburg“ („Der Boxprinz“, 2000) und Wolfgang Köhler, den sächsischen Bordellbesitzer, den Hubert Fichte als „Wolli Indienfahrer“ verewigte („Wollis Paradies“, 2007), rundet Kroske seine historische Kiezforschung nun mit einem Künstlerporträt ab.
Unvermittelter Hitlergruß
Nicht nur in seiner Paraderolle als „Beichtvater der Nation“ war Heino Jaeger, der zugleich auch die Anrufer spielte, ein anarchisch ausschlagender Detektor bundesrepublikanischer Alltagspathologien. Auch seine privaten Performances im Freundeskreis galten einer deutschen Nachkriegswirklichkeit, deren enorme Verdrängungsleistungen durch gezielte Provokationen schnell sichtbar gemacht werden konnten – etwa indem Jaeger bei einem Volksfest in der bayerischen Provinz als Spaßdirigent eines Blasorchesters unvermittelt den Hitlergruß entbot, was im Bierzelt keinerlei Irritationen auslöste. War da was?
Es sind Geschichten wie diese, die Jaegers langjährige Freunde voller Bewunderung und Empathie vor Kroskes aufmerksamer Kamera nacherzählen. Aus den Anekdoten entsteht eine biografische Rekonstruktion, die im Kern fragmentarisch und auf Jaegers multimediale Kunstpraxis bezogen bleibt.
Hinter der Bierflasche verstecken
Jaegers zeichnerisch-malerisches Werk hinter den Kabarett- und Hörfunkarbeiten hervortreten zu lassen, ist eine Fluchtlinie, die Kroskes Film bis zu späten Videoaufnahmen einer Vernissage verfolgt, bei der sich Jaeger wie gepeinigt durch die auf ihn gerichtete Aufmerksamkeit hinter einer Bierflasche zu verbergen sucht, die als antibürgerliches Proletsignal im Galerieraum leuchtet.
Wie unwohl sich dieser Mann in der Rolle als öffentlich ausgestellte Künstlerfigur gefühlt haben muss, ist hier fast schmerzhaft nachvollziehbar. Aber auch das verzweifelte Trinken eines schweren Alkoholikers zeigt sich überdeutlich.
Auf manches können sich die, die ihm am nächsten waren, noch einen lebensgeschichtlichen Reim machen. Die traumatische Kindheitserfahrung während der Dresdner Bombennacht im Februar 1945 findet ihr Echo dann in einem entgleisenden LSD-Trip bei Wolli Köhler. Nach dessen Darstellung versuchte Jaeger damals drogenverwirrt ein nichtexistentes Feuer zu löschen. Man rief einen Türsteherschrank und setzte Jaeger heftig unter Valium.
Nichtexistentes Feuer
Jaegers subversives Spiel mit Nazi-Symbolen, seine Hitler-Parodien an der Seite von Hanns Dieter Hüsch, werden einerseits als Reaktion auf einen kleinbürgerlichen Nazi-Vater deutbar, erscheinen aber zugleich als Fanal eines Selbstverständnisses, das an Übertretungen aller Art ausgerichtet war und auch nicht im ideologischen Konsens der 68er-Bewegung aufgehen wollte. Kommunentauglich wäre Jaeger wohl ohnehin nicht gewesen.
Bei vielen anderen Episoden wird deutlich, dass Jaeger auch jenseits gefürchteter Bürgerschreckauftritte für sein unmittelbares Umfeld grundlegend unkalkulierbar blieb, jemand, der auftauchte und wieder verschwand, der sich letztlich immer zu entziehen wusste. Seine Fundamentaldissidenz wird in Kroskes Film glücklicherweise nicht als Produkt seiner später diagnostizierten psychischen Erkrankung gewertet.
Jaegers traurige letzte Lebensdekade in einer psychiatrischen Einrichtung in Bad Oldesloe – er starb 1997 im Alter von 59 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls – soll nicht der Fixpunkt sein, von dem aus der Blick zurück seinen finalen biografischen Sinn erhält. Auch das ist die Leistung eines Films, der dem Eigensinn seiner Titelfigur zwar viel Raum gibt, sich aber nicht darauf beschränkt, das idiosynkratische Moment zu vereinseitigen. Kroske behandelt Jaegers Leben wie eine besondere, hochindividuelle Sonde, über die sich dennoch allgemeine gesellschaftliche Zustände perspektivieren und miterzählen lassen.
Gelebte St.-Pauli-Solidarität
Dem öffentlich-rechtlichen Radiomainstream ist Jaeger schon in den frühen 80er Jahren kaum mehr vermittelbar. Ehemalige Mitstreiter wie Hüsch scheinen nicht mehr viel für ihn ausrichten zu können. In einem bereits 1988 geführten Gespräch mit Joschka Pintschovius hat Hüsch den jeweiligen Anpassungsgrad für die unterschiedlichen Karriereverläufe verantwortlich gemacht und sich selbst indirekt des Konformismus geziehen: „Wir anderen haben Glück gehabt. Wir haben nämlich den Rahmen nicht gesprengt. Sei es aus Klugheit oder aus Unvermögen.“
Jaeger lebt in den Jahren nach der kurzen Rundfunkkarriere extrem prekär, verdient sich einen minimalen Lebensunterhalt, indem er Zeichnungen an befreundete Prostituierte verkauft, die ihn sexuell nicht interessieren. Weil sie ihn mögen, nehmen sie ihm regelmäßig Skizzen ab, ohne Verwendung dafür zu haben. Gelebte St.-Pauli-Solidarität, so viel Nostalgie darf schon sein.
Sehr schön ist Kroskes Film auch als beiläufige medienarchäologische Erkundung. Der große Saal des saarländischen Rundfunks hat hier einen sentimentalen Museumsauftritt und viele altertümliche Reproduktionstechnologien finden den Weg ins Bild. Wegstreiter wie Pintschovius kramen unförmige Abspielgeräte und ramponierte Tonbänder hervor, um Kroskes Film mit Jaeger-Raritäten zu füllen.
Unförmige Abspielgeräte
Verbindungen der Hamburger Trilogie zu Kroskes zweitem Filmzyklus, den „Kehraus“-Filmen, finden sich am ehesten im unprätentiösen dokumentarischen Modus der Annäherung an einen nicht ohne Weiteres aufschließbaren Milieukontext. Seit 1989, in bislang drei Filmen, folgt Kroske in einer parallel zu anderen Projekten betriebenen Langzeitbeobachtung den Lebensläufen von Leipziger Straßenkehrern, die im ersten Film unter anderem noch mit dem Müll zu tun haben, den eine Helmut-Kohl-Wahlkampfveranstaltung kurz nach der Wende mit sich bringt.
Im jüngsten Film „Kehraus, wieder“ (2006) sind zwei von ihnen bereits verstorben, in Vereinsamung und Verarmung, nach einem Leben an der Peripherie sozialstaatlicher Fürsorge. Dort, wo es mittlerweile bereits erwachsene Kinder gibt, kämpfen sie gegen die deterministische Drohung an, die Lebensbahnen der Eltern als Rahmensetzung für die eigene Biografie akzeptieren zu müssen.
In der Leipziger Trilogie ist die vergleichsweise mondäne Halbwelt der Hamburger Lebenskünstler weit weg. Kroske macht dennoch keinen Unterschied in der Herangehensweise, der Art, wie er Fragen stellt, Schweigen aushält, wie die Montage immer rechtzeitig abbricht und neu ansetzt, um nicht zu runde Geschichten aus schief laufendem Leben zu machen. Heino Jaegers Stehgreifminiaturen können als fernes Modell für diese Art des Einsammelns biografischer Splitter gelten.
„Heino Jaeger – look before you kuck“, Regie: Gerd Kroske. Dokumentarfilm, Deutschland 2012, 120 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku