: Fiedeln allein genügt nicht
■ Yehudi Menuhin: Ein Porträt des Weltbürgers, Geigers und Dirigenten von Hilmar Schulz
Lord Yehudi Menuhin steht jeden Morgen Kopf. Seit den 50er Jahren sind ihm die täglichen Yoga-Übungen zur Gewohnheit geworden. Zwölf Stunden pro Tag schläft er, manchmal in Minutenportionen, wo es sich trifft. Der Terminplan des charismatischen 79jährigen gleicht dem eines amerikanischen Außenministers. Pausenlos ist er unterwegs, um mit der Musik für Frieden und den Erhalt der Schöpfung einzutreten. Morgen abend nun macht er Station im Derby-Park Klein-Flottbek, wo das Litauische Kammerorchester und der Litauische Staatschor Kaunas unter seiner Leitung den Messias von Georg Friedrich Händel intonieren.
Yehudis Start war der des Wunderkindes im guten Sinne. Hohe ethische Standards herrschten im Haus seiner Eltern, einer jüdischen Immigrantenfamilie in der Neuen Welt. Mit sieben Jahren debütierte Menuhin in seiner Heimatstadt San Francisco. Vier Jahre später wurde der dickliche Junge in Bluse und kurzer Hose mit einem Konzert in der New Yorker Carnegie Hall schlagartig weltberühmt. Sein Auftritt 1929 in Berlin ging als das „Konzert mit den drei B“ – er spielte Violinkonzerte von Bach, Brahms und Beethoven – in die Musikgeschichte ein. Unter den Hingerissenen fand der Hobby-Musiker Albert Einstein starke Worte: „Jetzt weiß ich, daß es einen Gott im Himmel gibt“. Bruno Walter, der Dirigent jenes Abends, wunderte sich noch lange, daß Menuhins Spiel schon in der Jugend so reif und persönlich klang.
Es ist der Erfolg in den 20er und 30er Jahren, der den Grundstein zum Mythos Menuhin legte, dem sagenhaften Geiger, dessen Genie die Musik von Paganini bis zu Bartok zu unerhörtem Leben erweckt. Ein ungebrochener, naiver Idealismus prägte sich als wesentlicher Charakterzug Menuhins heraus, der mit der universellen Sprache der Musik die Menschen zusammenzuführen suchte.
Und er bezog klare Positionen. Als Amerika in den Zweiten Weltkrieg eintrat, reiste Menuhin zur Truppenbetreuung quer über den Atlantik, spielte in Baracken, Bordellen und Lazaretten Hunderte von Konzerten. Eine Woche nach der Befreiung besuchte er gemeinsam mit dem Komponisten Benjamin Britten das Konzentrationslager Bergen Belsen. „Wir wußten ungefähr, was uns erwartete. Aber nichts hätte uns seelisch oder visuell auf das vorbereiten können, was wir dort fanden.“ Noch 40 Jahre später konnte Menuhin nur stockend von dem Entsetzlichen sprechen. „Eine Zivilisation wird daran gemessen,“ formulierte er später, „wie lange sie es verhindern kann, daß Menschen sich in Bestien verwandeln.“ Doch der pessimistische Humanist resignierte nicht.
Yehudi – „Der Jude“ – Menuhin trat als erster nicht-deutscher Solist im Nachkriegsdeutschland auf und sprang für den vermeintlichen „Nazi-Dirigenten“ Wilhelm Furtwängler ein. Er wurde als Kol-laborateur und Verräter beschimpft. Israel konnte Menuhin erst zwei Jahre nach Staatsgründung besuchen – unter Morddrohungen. Nach dem Krieg zeigten sich Folgen der frühen Versäumnisse des Geigers, dessen Lehrer auf technische Übungen weniger Wert ge- legt hatten. Sein Spiel wurde häufiger fehlerhaft, schlecht intoniert, uninspiriert. Mit Hilfe seiner zweiten Frau Diana, östlicher Philosophie und Yoga gelang es ihm, die spieltechnische und seelische Krise zu überwinden. Doch manch älterer Fan behauptet, Menuhins Vortrag habe den Reichtum und die Schönheit der frühen Jahre nie mehr erreicht. Erkannte er selbst den Verlust und begann deshalb zu dirigieren? Die Musik wurde, in Union mit seiner Person, ganz zum Medium seines universellen Engagements. Menuhin trat für sowjetische Musiker ein, spielte in den 50er Jahren in Südafrika vor schwarzem Publikum und boykottierte danach den Apartheids-Staat vier Jahrzehnte lang. Er kämpfte für die Aussöhnung von Palästinensern und Juden, für den Schutz der Alpen und ökologische Projekte in Afrika. In seinen Schriften, die oft schwärmerische, esoterische Aspekte durchschimmern lassen, entwirft er Visionen einer besseren Welt.
Auch musikalisch strebte Menuhin über die Grenzen des reinen Interpreten hinaus. Seit der Weltbürger in den 50er Jahren in England und der Schweiz heimisch wurde, gründete er Musikinstitute, Geigerschulen und Musikfestivals, das berühmteste im südenglischen Bath. Er reiste für Unesco um die Welt, wurde von den Friends of the Earth geehrt, er ist Träger der Crown of the British Empire und Ehrendoktor der Sorbonne.
Trotz Millionen verkaufter Schallplatten, übertroffen wird er in diesem Punkt nur von der Callas und Karajan, ist Yehudi Menuhin der Jahrhundert-Musiker eine moralische Instanz geblieben: „Kein Musiker darf dumpf vor sich hin fiedeln, wenn die Welt in Flammen steht.“
Morgen abend 20 Uhr, Derby-Park Klein Flottbek, Einlaß 17 Uhr
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