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Archiv-Artikel

Fetisch Tonspur

Nur indirekt setzt Werner Herzog die entscheidende Aufnahme in seinem Dokumentarfilm „Grizzlyman“ ein

Die jüngeren Filme Werner Herzogs finden kaum je einen regulären deutschen Verleih. Das ist umso trauriger, als Herzogs Faible für Größenwahn und Hybris nichts von seiner Attraktivität eingebüßt hat. Eine der schönsten Arbeiten, die 2005 entstandene Dokumentation „Grizzly Man“, ist nun seit Donnerstag im Central-Kino zu sehen.

„Grizzly Man“ besteht zu weiten Teilen aus Material, das nicht Herzog, sondern der radikale Tierschützer Timothy Treadwell drehte. Hinzu kommen Sequenzen, in denen Herzog Freunde, Weggefährten, Verwandte und Gegner seines Protagonisten zu Wort kommen lässt. 13 Sommer verbrachte Treadwell – geläuterter Alkoholiker, gescheiterter Schauspieler, Egomane – in einem Nationalpark in Alaska, ausgerüstet mit Zelt und Videokamera, beseelt von der Natur, die ihm keine Widerworte gab, begleitet von jungen Frauen, die in den Videoaufzeichnungen höchstens als Schatten vorkommen.

Das Besondere an Treadwells Outdoor-Abenteuern war, dass er in nächster Nachbarschaft zu Kodiak-Bären campierte. Für Treadwell stellten diese bis zu 700 Kilogramm schweren, aufgerichtet bis zu drei Meter messenden Tiere keine Bedrohung dar, sondern Sehnsuchtsobjekte. Herzog begegnet seinem Protagonisten zwar mit Sympathie, aber durchaus auch mit Distanz; wo dieser in den Augen eines Bären göttliche Funken sprühen sieht, erkennt jener nichts als Gleichgültigkeit und Unbarmherzigkeit.

Wenn Treadwell vor laufender Kamera monologisierte, artikulierte sich zunächst verhalten, später immer manifester ein Verlangen, das auf seine Bärwerdung zielte. Der blonde Mann wollte sein Menschsein hinter sich lassen, und auf eine unselige Art ging sein Wunsch in Erfüllung. Im Oktober 2003 wurden er und seine Begleiterin Amie Huguenard von einem Bären angegriffen, getötet und gefressen. Die Kamera war während des Angriffs eingeschaltet, doch weil die Verschlusskappe nicht entfernt war, zeichnete das Gerät nur den Ton, nicht das Bild auf.

Diese Tonspur ist der Fetisch des Films. In einer Szene erläutert ein Gerichtsmediziner anschaulich, was zu hören ist, ohne dass es eingespielt würde. Später sieht man Herzog, im Profil und mit einem Kopfhörer, am linken Bildrand, im Bildmittelpunkt eine enge Vertraute Treadwells. Sie hört nicht, was Herzog hört, wir hören es auch nicht. Doch Herzog weiß dafür zu sorgen, dass uns diese abwesende Tonspur nicht mehr loslässt. Sobald er den Kopfhörer abgesetzt hat, sagt er: „Eines musst du mir versprechen: Das hier darfst du dir niemals anhören.“

CRISTINA NORD

„Grizzly Man“, Regie: Werner Herzog. Dokumentarfilm, USA 2005, 103 Min., im Central-Kino, siehe www.kino-central.de