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Archiv-Artikel

Feldforschung

Das leere Zentrum der Boheme: Tobias Hülswitts Roman „Der kleine Herr Mister“

Es ist ein komischer Besuch, selbst für einen Künstler. Als der Erzähler in Tobias Hülswitts Roman „Der kleine Herr Mister“ die Tür seines Ateliers öffnet, steht ein Kobold vor ihm. Blauer Overall, blaue Haut, frech noch dazu. Herr Mister ist ein Quälgeist, der aber schöne Versprechungen macht. Wer würde nicht einwilligen, wenn ihm das große Glück angeboten wird? Doch ein solcher Pakt kostet, das weiß man seit Fausts Treffen mit Mephistopheles. Also sagt der Maler lieber Nein zum Seelenhandel. Dass er es nicht entschieden genug tut, wird später sein Verhängnis.

Dabei ist der Einstieg nur ein Traum, wie so vieles in „Der kleine Herr Mister“. Mal sind es Halluzinationen, die von einer Hammerdroge namens „Gott“ hervorgerufen werden; mal ist es der surreale Irrsinn, der sich im Schlaf oder im Fieberwahn ausbreitet. Offenbar hat der 1973 geborene Hülswitt ein Faible für Szenerien, die den Leser im Unklaren darüber lassen, wo die Grenze zur Wirklichkeit liegt und ob sie nicht längst überschritten ist. Verrückte Einsiedler, esoterische Sektenführer: In seinen immer fantastischeren Wendungen gleicht der Roman den Motiven auf den Bildern von Daniel Richter, bei dem der Realismus mittlerweile ja auch magisch in Neonfarben schillert. Tatsächlich macht das erzählende Künstler-Ich eine ähnlich sagenhafte Karriere wie zuletzt Berlins neue Malerhelden.

Zeitungen schreiben ihn zum Superstar hoch, Sammler umgarnen ihn, coole Girls wollen mit ihm schlafen. Als seine Freundin den Rummel nicht mehr erträgt und zum Meditieren in eine obskure Landkommune in Mecklenburg-Vorpommern flüchtet, reist er ihr nach, nur um bei einer afrodeutschen Modedesignerin im Bett zu landen, die Voodoopuppen bastelt und sich vor dem verwirrten Bauern auf dem Nachbarhof fürchtet.

Nichts lässt Hülswitt mit „Der kleine Herr Mister“ aus. Hier ein bisschen Mystery-Thriller, dort eine postkoloniale Gender-Studie nach Art von Thomas Meinecke. Und mittendrin wird viel Pop-Sozialisation verarbeitet, gerne auch mit einem Beiklang von Bitterkeit: „Ich war nie Teil einer Minderheit“, lautet das Resümee, mit dem der Maler einem Bewunderer erklärt, warum Kunst eben nicht aus einem existenziellen Leiden entsteht, sondern aus einem Überdruss an zu viel Normalität.

Damit ist auch der Kurs markiert, auf dem sich der Roman bei allem Funkenzauber mäßig amüsant vorwärtsschlängelt. Ständig setzt Hülswitt auf Verfremdung, konstruiert mit einigem Pomp groteske Situationen, in die sein Erzähler hineinstolpert wie in einen stockdunklen Raum. Wenn die Drogen wirken, wird es für Momente euphorisch; und beim Kater danach schleppt sich die Handlung ebenso konsequent zäh weiter.

Natürlich hat man schnell begriffen, dass die Boheme, die Hülswitt meint, um ein leeres Zentrum tänzelt, dass sie beziehungsunfähig oder gleich ganz identitätslos ist und darum unglücklich. Wozu aber dann noch den Konflikt zwischen künstlerischem Machtdrang und dem Wunsch nach einem beschaulichen, vor allem selbstbestimmtem Leben suchen? Die Spur, die Hülswitt zu Beginn in Richtung Faust auslegt, verliert sich da als ein Effekt unter vielen im Ungefähren. Insofern ist „Der kleine Herr Mister“ vor allem: über weite Strecken authentisch ziellos. HARALD FRICKE

Tobias Hülswitt: „Der kleine Herr Mister“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 240 Seiten, 16,90 Euro