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Faxen, Plüsch und Vorgeschmäcker

■ Mit großem Programm startete am Wochenende die Hammoniale, das Festival der Frauen

Auftakt-Fest

Der Auftakt zum Festival der Frauen, der Hammoniale '93, bescherte erst mal ein Problem: Wie schaut und horcht man in drei Hallen gleichzeitig? Sehenswert war alles. Im Programm um baltische, finnische, jiddische (Chor-)Musik, baltische Literatur und Theater oder Konzerten von Sinti und Roma, wurde am Freitag jedoch erst mal eine (überwiegend) musikalische Vorschau gezeigt.

„Guten Abend, liebe Leute. Großes Sängerfest ist heute.“ Der finnische Tapiola-Kinder- und Jugendchor sang finnische, lappländische, sogar neuseeländische Volksweisen. Sehr wohlklingende „Brücken zwischen den Völkern“, stimmsicher dargeboten in bunt-folkloristischen Kostümen. Als einer der Höhepunkte des Abends präsentierten die Mädchen und Jungen ein zeitgenössisches Werk mit dissonanten Lauten in rhythmischen Verschiebungen, Schreien und Geräuschen. Der Estnische Philharmonische Kammerchor begeisterte mit einer kultischen Beschwörung über das Eisen. Archaische Riten und moderner Chorgesang mit bedrohlicher Handtrommel.

Einen Anstrich von Fernsehgala gaben dem Abend Hamburger Schauspieler mit ihren Lyrikeinlagen. Friedrich Schütter sprach seine Worte so feierlich, daß eine Dame mittleren Alters begeistert zur Pocket griff und auf die Bühne eilte. Unser aller (Noch-)Ober-Henning deklamierte über die „Kunst als Gedächtnis der Völker“ und mischte sich in der Pause ganz bürgernah unters Foyer-Volk.

In plüschig-bunten Gewändern bot das Roma Ensemble mit Tanz, Gesang und Instrumentalbegleitung einen Vorgeschmack auf das Wochenende der Weltmusik: Leider in der festbestuhlten Halle 2. Dem Attribut „Fest“ wurden jedoch am ehesten die Konzerte im Foyer der Halle 1 gerecht. Flamenco und Romagruppen feuerten das Publikum an, das sich endlich der Musik hingeben durfte.

Eva Maria Hagen, stimmgewaltig und feurig im roten Kleid sang zu später Stunde in Halle 6 – ins Deutsche übersetzte – estnische und jiddische Lieder. Fetziger Höhepunkt hier war das Kurzkonzert der New Yorker Klezmatics. Ihre gnadenlose Verjüngung der traditionellen jüdischen Musik mit Elementen aus Jazz-, Rock- und Trash-Musik, langen Improvisationen und Publikumsanimationen ist sicherlich eines der vitalsten musikalischen Ereignisse der Weltmusik. Bei ihrem eigentlichen Konzert am Samstag reagierte das Publikum allerdings eher zurückhaltend. Sicherlich bedingt durch die starre Größe der Halle 6 fanden sich lediglich zwei Gäste zum Tanzen bereit und es dauerte bis zum zweiten Zugabenteil, bis das Publikum der Animation folgte. Auch der Versuch der Band, den Estnischen Kammerchor auf die Bühne zu bekommen gelang leider nicht.

Niels Grevsen

Estnischer Philharmonischer Kammerchor

Die Prognose darf gewagt werden, daß nach dem Bulgarischen Frauenchor dieses Ensemble das nächste ist, das mit etwas rhythmischer Untermalung in die Charts einziehen wird. Die Verbindung von eigentümlicher Melodieführung und populistischem Schmiß, von Volksmusik und Entertainment wird die Spürhunde des klingenden Erfolges nicht lange auf sich warten lassen. Ihr Konzert am Samstag mit Kompositionen von Veljo Tormis mag dazu das beste Empfehlungsschreiben sein.

Die Adaptionen von Motiven estnischer und finnischer Volkslieder galt zwar dem Andenken aussterbender Völker, die Interpretation gestaltete sich aber überwiegend heiter. Ein Chor, der manchmal singt wie eine Schallplatte, die man bremst, und ein Dirigent, der Fratzen schneidet und das Publikum mit Faxen zum Mitschnippen animiert, sind gern gesehene Gäste in der Konzertwelt. Knurren und Miauen kann das doppelte Dutzend Sänger ebenso wie poppige a-capella-Schleifchen drehen und ernsthaft mittelalterliche Klangfarben entwickeln. Der große musikalische Reichtum der nordischen Region, der hier zu entdecken war, umfaßt sowohl Bezüge zu kirchlichen Traditionen als auch völlig eigene, oft magische Gesangsmuster, die einen betörenden Bann entwickeln. Wirkliche Brillanz entwickelt der Chor allerdings hauptsächlich im ersten Teil des Abends, wo er sein ganzes Können in komplexen Stücken, die Anleihen zu Gregorianik und Troubadour-Musik bezogen, ausspielen konnte. Der launigere zweite Teil mit Tanzliedern und musikalischen Erzählungen begeisterte dafür das Publikum mehr. tlb

Dramatheater Tallinn

Schon vor den letzten Zuschauern kommt der Heimkehrer mit dem Hausherrn in die Wohnung: Grüner Bretterboden und hölzerne Stellwand, eine Glaswand nach hinten. Musik aus alter Zeit erklingt. Jeder Schritt, jeder Blick, so scheint es, eine Erinnerung.

Heimkehr vom Vater des estnischen Autors Madis Koiv, gespielt vom Dramatheater Tallinn, zeigt durch die Erinnerung eines Heimkehrers Bilder und Visionen unseres Jahrhunderts, vor allem aber die persönliche Auseinandersetzung des Sohnes mit Vater und Mutter. Der Heimkehrer (Jüri Krjukov) gerät in der Wohnung in alte Situationen mit seiner Familie, zwischendurch unterhält er sich immer wieder mit dem Hausherrn, als sei dieser sein Reiseführer durch die Vergangenheit. Der Vater war der sowjetischen Besatzung entflohen, der Rest der Familie sollte folgen.

Besonders eindringlich sind die Visionen in der „ersten halben Stunde“: Soldaten im roten Licht, wie dunkle Gestalten, die helle, fast engelshafte Erscheinung der Mutter – überfallartige Bilder. Schauspielerisch brilliert Andrus Vaarik als kauziger Hausherr. Sehenswert ist auch, wie Jüri Krjukov den Heimkehrer als kleinen Jungen spielt – nur durch veränderte Mimik und Tonfall.

Vater und Sohn nähern sich langsam, fast anrührend an. Es bleibt eine Distanz. Das surrealistische Angeln der Beiden in der Wohnung dient als metaphorisch reiches Bild. Der Heimkehrer behält nicht nur hier seinen Mantel an, auch am Ende legt er ihn nicht ab. Er bleibt ein stets gerade Heimgekehrter ohne das Zuhausegefühl wieder erlangen zu können.Trotz der bildreichen, auch komischen Inszenierung, trotz aller (vermutlichen) Vielschichtigkeit stellt sich am Ende die Frage, warum ein so sprachlastiges Theater im Original gezeigt wird.Niels Grevsen

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