: Faszination von Fels und Wasser
Canyoning in der spanischen Sierra de Guara. Dort laden zahlreiche Schluchten zum Abstieg ein ■ Von Roger Büdeler
In Spanien und Frankreich ist es schon seit langem beliebt und verbreitet – Canyoning, das Absteigen und Durchqueren von zumeist wasserführenden Schluchten. Langsam wird diese Sportart nun auch hierzulande entdeckt, aber wie bei so vielem, was die einschlägige Reise- und „Outdoor“-Journaille zum neuesten Trend erklärt, entsprechend aufgemotzt und eingepackt. Ob da Brigitte beim Blick in einen tiefen Abgrund enorme Selbsterfahrungen sammelt, der Spiegel beim Abseilen im Wasserfall die „Lust am Risiko“ ausmacht, oder Alpin den Fachmann losschickt, der beim Anblick der Schluchten erschauert und ganz klein wird – lauter Klischees aus dem Erlebnis- und Erfahrungskult dominieren die „Insider“-Reportagen und stilisieren das Canyoning zu einem Tummelfeld von Gefühlsweltabenteuern aller möglicher Art.
Das wird diesem Sport, der so recht in keine Schablone der bekannten Freizeitaktivitäten paßt, nicht ganz gerecht. Seinen Reiz bezieht er aus dem Abwechslungsreichtum der sportlichen Techniken, die auf den Touren zum Einsatz kommen und kombiniert werden – und einer gänzlich unbekannten landschaftlichen Umgebung.
Ein Abstieg in den Schluchten ist oftmals eine Exkursion ins Erdinnere. Sie führt durch eine bisweilen fast unterirdische Welt aus Stein, in der vorwiegend Kalk, Granit, Gneis und Konglomerat eine phantastische Architektur aufbauen. Zusammen mit Wasser, Licht und Vegetation entsteht eine besondere Szenerie, deren Schönheit oftmals schon in ein und derselben Schlucht verblüffend vielseitig ist.
Wasserfälle und Felsabbrüche, Höhlen und immense Strudelbecken, enge Wassergänge und ausgedehnte Wasserbecken, steilwandige Engpassagen und Überhänge, chaotisch aufgetürmte Felsblöcke und verkeilte Baumstämme prägen dabei die völlig unterschiedliche, individuelle Gestalt jedes Canyons.
Sie geben aber auch die wesentlichen Hindernisse vor, von deren Bewältigung der sportliche Reiz einer Canyon-Tour ausgeht. Abseilen, Klettern, Springen und Schwimmen kommen dabei zum Einsatz und müssen entsprechend beherrscht werden, um neben hinreichender Sicherheit auch Spaß bei der Durchquerung zu haben. Dabei verlangt dann manche Tour noch Kondition. Denn nicht nur die Länge mancher Schlucht und die dauernde Konzentration darauf, daß jeder Schritt und jede technische Verrichtung „sitzen“, sondern auch der stundenlange Kontakt mit dem fast immer eiskalten Wasser ist bisweilen kräftezehrend.
Die fürs Canyoning nötige Ausrüstung ist auf die vorherrschende Elemente Fels und Wasser abgestimmt: Neoprenanzug, Sitzgurt und Abseilmaterial, rutschfeste Profilschuhe und Wasserrucksack sind die grundlegenden Utensilien zum „Einsteigen“ in die Schluchten.
Ein in Europa wohl einmaliges Canyongebiet liegt in der nordspanischen Provinz Huesca, im Süden der spanischen Zentralpyrenäen: die Sierra de Guara. Dutzende von Schluchten aller Art haben sich hier durch die Gesteinsschichten oft mehrere hundert Meter tief in das Gebirgsmassiv eingefressen und mit den Jahren lange Durchbrüche erzeugt.
Es sind imposante Zeugnisse der Erdgeschichte. Entstanden ist dieses „Schluchtenkonzentrat“ im Zuge der alpinen Auffaltungen der Pyrenäen. Im frühen Tertiär haben tektonische Kräfte zunächst eine Verdichtung, dann Aufrichtung und Faltung von mächtigen, überwiegend marinen Sedimentlagern bewirkt. Später wurde die Erdoberfläche erneut aufgefaltet, wobei ein sedimentärer Mantel vom Gebirgssockel der Pyrenäen abgelöst und sukzessive nach Süden verschoben wurde. Die dabei entstandenen mehrfach übereinandergekippten Faltungen isolierten sich schließlich vom Pyrenäenmassiv und bildeten die Sierra de Guara.
Dieser vor 30 Millionen Jahren einsetzende Prozeß war von gewaltigen Aufbrüchen und Spaltungen der Gesteinsmassen begleitet. In den Deformationen bahnte sich das kohlensaure Wasser der Flüsse seine Wege, höhlte die Brüche und Risse immer tiefer zu Schluchten aus und formte dabei das vorherrschende Kalk- und Konglomeratgestein zu einer sagenhaften Felsarchitektur.
Schon die maurischen Eroberer der Region haben sich davon so beeindruckt gezeigt, daß sie einen der schönsten Canyons ehrfurchtsvoll maskhun, den „Aufenthaltsort der Zauberer“, genannt haben. Ein durchaus passendes Bild für den unteren Abschnitt des Barranco de Mascún, in dem natürliche Felsbrücken mit wuchtigen Spannbögen, hochaufragenden Monolithen, kugelrund geschliffenen Blöcke, Felsburgen und Uferwänden, die über und über mit blaugrau getönten Spitzen, Türmchen und Kuppeln besetzt sind, eine bizarre Szenerie bilden.
Während dieser Teil der Schlucht kaum Gefälle oder Hindernisse aufweist und deshalb ausnahmsweise auch flußaufwärts begehbar ist, stellt der obere Abschnitt, der sogenannte Barranco de Mascún superior, eine sportliche Herausforderung zwischen einer wilden Felskulisse dar. Schon der Einstieg in die Schlucht hat es in sich: Ein 30 Meter hoher Wasserfall muß durch Abseilen überwunden werden, bevor sich der Canyon im weiteren verengt und die vertikal hochstrebenden Felswände scharfkantige Korridore und gewundene Gänge bilden, in denen sich gedrehte Felsabbrüche mit Strudelbecken abwechseln, alles vom milchig-grünen Wasser des Rio Mascún durchflutet.
Doch von den pozas und badinas, den wunderschönen Wasserbecken und -gängen, sollte man sich nicht über die gewaltige Kraft des Wassers täuschen lassen, das aus manchem Canyon eine gefährliche Falle machen kann. Nicht nur da, wo hohe Fälle, eng verlaufende Schluchtwände oder im Flußbett verkeilte Felsblöcke seine Wucht immens steigern oder Wirbel und Sog entstehen lassen. Ein Gewitter mit heftigem Regen kann manche Schlucht innerhalb kürzester Zeit in ein Inferno verwandeln.
Von der immensen Kraft des Wassers zeugen aber auch die schon längst ausgetrockneten Canyons. Sie sind Beispiele für die beharrliche Erosionsarbeit der Flüsse, die aus dem Gestein über Jahrmillionen hinweg riesige Strudelbecken herausmodelliert haben. Fast 40 Meter hoch ist so ein Kessel im Barranco de la Portiacha, der mit seinen gewölbten, sich nach oben verengenden Wänden einen gigantischen Raum bildet. Mit den nuancenreichen Abtönungen des rotbraunen Gesteins und den blauschwarz eingefärbten Ablagerungen von Kalksinter, die wie Kerzenwachs in breiten Bahnen am Fels herunterlaufen, glaubt man sich in ein Naturtheater versetzt.
Selbstverständlich kann man auch solche Canyons absteigen, wobei meistens große Höhenunterschiede abgeseilt werden müssen. Aber in den Hochsommermonaten sind diese Touren wegen der Hitze eher strapaziös. Dann sind die wasserführenden Schluchten ideal, durch die zu anderen Jahreszeiten das Hochwasser tobt und einen Abstieg unmöglich macht.
Zum Beispiel die Gorgas Negras, eine klassische, wenngleich sportlich und konditionell nicht ganz einfache Tour. Der Rio Alcanadre hat auf einer Länge von fünf Kilometern einen imposanten Canyon ausgefressen, den viele als den schönsten der Region erachten. Oberhalb des Flusses auf einem Felsplateau liegt Rodellar, Ausgangs- und Endpunkt der Tour. Dieser für die Sierra de Guara typische Ort, desen ursprüngliche Strukturen recht gut erhalten sind, bildet neben Alquézar am Rio Vero ein lebendiges Zentrum für Canyoning, mit Campingplätzen, Ausrüstungsverleih und geführten Tourenangeboten. Schon der Anweg zur Schlucht bietet herrliche Aussichten. Er führt über ein Hochplateau, von dem aus man das durchfurchte Gebirgsmassiv weit überblickt, vorbei an Nasarre, einem im Zuge der Landflucht in den fünfziger Jahren verlassenen Ort. Mit seinen verfallenden Häusern bildet er einen eigenartig beklemmenden Kontrast zum lebhaften Rodellar.
Im Canyon durchquert man hohe, in prächtigem Formenspiel senkrecht abfallende Felswände. Sie laufen am Grund in eine durch die Abriebkraft des Wassers gestaltete Landschaft aus abwechselnd kreisrunden Becken, blankpolierten Felstreppen und engen Wassergängen aus. Mehrere Wasserfälle und gigantische, zwischen den Wänden verkeilte Felsblöcke, die sich chaotisch zu Barrieren auftürmen, erforden neben dem Abklettern eine gute Abseil-, vor allem aber Sprungtechnik. Denn der sportliche Reiz in den Gorgas Negras besteht darin, viele der Abbrüche durch Sprünge aus acht bis zehn Meter Höhe in tiefe Wasserbecken zu überwinden.
Aber so reizvoll das Springen auch ist, es erfordert jedesmal unbedingte Vorsicht, um böse Überraschungen zu vermeiden. Denn oftmals kann von oben weder die Wassertiefe exakt eingeschätzt noch können Felsen oder Baumstämme unter der Oberfläche ausgemacht werden, und bei mancher Engstelle gilt es, überaus punktgenau zu springen. Am sichersten ist es darum, daß sich zuerst jemand abseilt, um die Sprungstellen im Wasser zu überprüfen.
Mit ihrer unglaublichen Vielfalt bieten die Canyons der Sierra de Guara für jeden Anspruch ein Vergnügen, von leichten bis zu sportlich herausfordernden, von einstündigen bis zu tagesfüllenden Abstiegen. Und jedesmal geht es durch eine einmalige Naturkulisse, die die Sinne mit ungewohnten Eindrücken und Bildern gefangennimmt.
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