Fast Food statt Vitamine: In der Lebensmittelwüste
In vielen US-Großstädten gibt es immer mehr Viertel, die mit Fast-Food-Ketten überschwemmt, mit frischen Lebensmitteln aber chronisch unterversorgt sind.
Manchen ihrer Kunden muss Monica Thurman erklären, was Kohl ist. Oder eine Süßkartoffel. Oder ein Kürbis. "Ab und zu kaufen Leute auch nur unser Obst, weil sie nicht wissen, was sie mit Gemüse anstellen sollen. Aber wir erklären hier viel oder geben Rezepte für frisch gekochte Gerichte weiter."
Die 25-jährige Farmerin, rundes, fröhliches Gesicht, energische Stimme, ist ständig in Bewegung. Sie ordnet grüne Tomaten in Kartons, packt Zwiebeln in Plastiktüten und reicht sie über den Holztisch, den sie vor der Fernwood United Methodist Church aufgebaut hat. Thurmans Schwester malt mit Filzstift lachende Gesichter auf die Wassermelonen neben dem Stand. Leute aus der Gemeinde schauen vorbei, reden, lachen.
Der Markt am Samstag ist in Roseland, einem Stadtteil in Chicago, etwas Besonderes. Auf den ersten Blick verkauft Thurman nur ihre Produkte, die sie frühmorgens von der Farm ihres Vaters in die Großstadt gefahren hat. Doch in Wirklichkeit leistet sie Entwicklungshilfe. Roseland ist eines der ärmsten Viertel der Stadt, die Arbeitslosigkeit ist hoch, das Durchschnittseinkommen niedrig. Hier leben fast ausschließlich schwarze Menschen. Und es gibt keinen Discounter oder Supermarkt.
Roseland liegt in einer "Food Desert", einer Lebensmittelwüste. So nennen amerikanische Ernährungsforscher Gebiete, in denen Menschen der Zugang zu frischen Lebensmitteln fehlt. Wer in ihnen wohnt, bekommt Fast Food, Fertiggerichte und Tiefkühlware bequem an jeder Ecke, fett- und zuckerreiche Kost mit wenig Nährstoffen.
Doch für vitaminreiche Kost wie Salate oder Äpfel, für günstige Grundnahrungsmittel wie Milch oder Mehl müssen die Anwohner meilenweit fahren. Während in Deutschland leidenschaftlich über den Zusammenhang von Bildung und Ernährung, über Hartz-IV-Speisepläne und dicke Kinder gestritten wird, fängt in den Staaten das Problem noch früher an.
Die Food Deserts gibt es auch in anderen amerikanischen Großstädten, über die Hälfte der Einwohner von Detroit leben in einer. Das Phänomen ist so weit verbreitet, dass das US-Landwirtschaftsministerium sie in einer einjährigen Studie untersuchen ließ. 23,5 Millionen Amerikaner leben demnach in Gegenden mit einem extrem niedrigen Durchschnittseinkommen und müssen eine Meile oder länger bis zum nächsten Supermarkt fahren, so das im Sommer 2009 veröffentlichte Ergebnis. Obwohl das Ministerium beschwichtigend darauf hinweist, dass nur wenige dieser Menschen - 2,3 Millionen - kein Auto besitzen, leihen oder anders organisieren können, eröffnen alle Studien zu diesem Thema erstaunliche Einsichten in eine der reichsten Nationen der Welt. Und in die Schwächen ihrer Marktwirtschaft.
In Chicago leben 2,8 Millionen Menschen, knapp 610.000 davon in einer Food Desert. Fast alle sind schwarz. Fast alle leben in den ärmeren Stadtteilen im Süden und Westen von Downtown. Unter den Betroffenen sind 100.000 alleinerziehende Mütter und 200.000 Kinder. "Viele gehören zur Klasse der ,Working Poor'. Sie haben zwei oder mehr Jobs, besitzen kein Auto oder sind schlicht nicht in der Lage, lange Wege für einen Einkauf einzuplanen", sagt Mari Gallagher. Die Sozialwissenschaftlerin, die in Chicago eine Beratungsfirma besitzt, hat den Begriff der "Food Deserts" erfunden. Sie hat das Phänomen 2006 erstmals in einer Studie beschrieben und seitdem Folgeuntersuchungen veröffentlicht.
Statistische Schrecken
Ihre Methodik beruht auf Messungen: Sie berechnet, wie weit jeder einzelne Häuserblock von Fast-Food-Restaurants, Supermärkten oder Discountern entfernt ist, stellt statistische Zusammenhänge her, gibt Durchschnittswerte für Stadtteile an.
Ein schwarzer Chicagoer muss beispielsweise im Durchschnitt 0,77 Meilen bis zu einem Discounter laufen, bis zu einem Fast-Food-Angebot nur 0,34 Meilen. Ein Weißer läuft bis zum Discounter 0,57 Meilen und bis zum Burger 0,35 Meilen. Das klingt nicht dramatisch. Doch die Statistik verallgemeinert, in der Lebenswirklichkeit sind die Unterschiede riesig.
In Roseland sind es von vielen Häuserblocks aus drei Meilen, also fast fünf Kilometer, bis zu einem Supermarkt. "Es ist wirklich ein Problem, dass es hier so viel leichter ist, an Fast Food zu kommen. Dieses Zeug schadet unserer Gesundheit", sagt eine Frau vor Thurmans Marktstand, die mit dem Auto kommt, um Frisches einzukaufen. Ein junger Mann erzählt: "Die Leute fahren lange mit dem Bus, um einzukaufen. Man sieht oft, wie sie diese schweren Einkaufswagen in den Bus wuchten."
Wenn man einen Vormittag durch Roseland fährt, ist die Armut nicht zu übersehen. Von den kleinen Holzhäusern blättert die Farbe ab, auf Parkplätzen rosten Autowracks, Müll liegt auf Rasenflächen. Es gibt kleine Eckläden, die Cupcakes und Hot Dogs verkaufen, oder Tankstellen, die Dutzende Chipssorten anbieten.
Eine Filiale der Drogeriekette Walgreen bietet frisches Obst an, als Snack, es liegt direkt an der Kasse neben den Schokoriegeln. Ein in Styropor abgepackter roter Apfel und eine Banane kosten 1,59 Dollar. Bei McDonald's kosten ein McDouble-Menü, also ein Cheeseburger mit zwei Fleischfladen, eine Pommes Frites und so viel Cola, wie man trinken kann, gerade einmal 3 Dollar. Für die Stadt sind selbst solch überteuerte Obstangebote schon echte Erfolge, die sie dankbar vermarktet. Als die Drogeriekette im August ankündigte, Obst in vier weiteren Läden zu verkaufen, lobte Bürgermeister Richard Daley persönlich Walgreens "Engagement, Chicago zu einer gesünderen Stadt zu machen".
Er braucht Erfolge. Als die Sozialwissenschaftlerin Gallagher ihre ersten Ergebnisse vor vier Jahren veröffentlichte, haben sie eine heftige, amerikaweite Debatte provoziert. Überregionale Medien wie das Time Magazin und USA Today berichteten. Seitdem steht der Kampf gegen den Mangel oben auf der Liste der Lokalpolitiker.
"Die Behörden der Stadt arbeiten Hand in Hand, um der Bevölkerung den Zugang zu gesunder Nahrung zu sichern", sagt Molly Sullivan, Sprecherin der Behörde für Stadtentwicklung. Die Stadt verhandelt mit Managern der Supermarktketten, die Gangs oder zahlungsunfähige Kunden fürchten, und fördert Ansiedlungen mit Steuererleichterungen. Seit 2006 hätten sechs neue Supermärkte in Food Deserts geöffnet, sagt Sullivan.
Außerdem unterstützt Chicago Nachbarschaftsgärten und Wochenmärkte ebenso wie eine Mobile Food Pantry, ein Projekt mit Bussen, dass wie die Tafeln in deutschen Städten funktioniert. Die Busse fahren regelmäßig arme Viertel an, die Mitarbeiter verteilen frische Lebensmittel an Bedürftige und versorgen derzeit so 18.750 Haushalte. "Die Kollegen erklären außerdem, wie man sich gesund ernährt, geben Kochkurse oder beraten Eltern zur Ernährung ihrer Kinder", sagt Lara Chereso, Sprecherin der städtischen Familienbehörde. Der Erfolg all dieser Versuche ist bescheiden. Seit 2006 ist die Zahl der von Food Deserts Betroffenen um nur knapp 4 Prozent gesunken. Die Anwohner helfen sich deshalb selbst. Sie bilden Fahrgemeinschaften, organisieren Fahrten für Großeinkäufe, Nachbarn bringen alten Menschen Lebensmittel mit. Ein Viertel bildet Strukturen, um mit dem Mangel umzugehen.
Kein Spinat für Schwarze
Reverend Al Sampson, ein massiger Mann mit khakifarbenem Hemd und Sonnenbrille, sitzt auf einem Klappstuhl hinter dem Marktstand der Farmerin Thurman. Sampson, der in den 60ern mit Martin Luther King arbeitete und selbst in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung aktiv war, ist eine Institution in Roseland. Er hat den kleinen Markt vor der Kirche ins Leben gerufen, vor 32 Jahren, als noch niemand von Food Deserts sprach. Es folgte ein halbes Dutzend Märkte, alle im Süden von Chicago, wo vor allem Schwarze leben.
"Ich bin ein Priester, ich verheirate. Deshalb bringe ich schwarze Farmer mit der armen, schwarzen Bevölkerung zusammen", sagt Sampson. "Die einen können mit ihrer kleinen Farm nicht bei der industriellen Landwirtschaft mithalten und brauchen Abnehmer. Die anderen brauchen gesunde Lebensmittel." Sampson lehnt sich vor, seine Stimme wird laut, er klopft einem aufs Knie, alle hören jetzt zu. "Es hat einen Grund, dass Gemüse hier so schwer zu bekommen ist. Jemand will nicht, dass wir stark werden. In diesem Viertel gibt es viele schwarze Kids, aber keinen Spinat." Für ihn ist die Unterversorgung ein Beispiel für strukturellen Rassismus. Grob gesagt: Je weiter weg der Supermarkt, je näher Fast Food, desto größer die Wahrscheinlichkeit, krank zu werden.
Für die Bewohner von Roseland kann sich im kommenden Jahr viel ändern. Aldi plant, zwei Filialen an der 115. Straße zu öffnen. Wenn der Discounter die Ankündigung wahr macht, bekommt das Viertel seinen ersten Supermarkt seit 40 Jahren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour