: Falsche Zahlen
Bahnchef Rüdiger Grube und Vorstand Volker Kefer haben die Kosten für den Ausstieg aus Stuttgart 21 nach Recherchen von Kontext mit zwei Milliarden Euro um mindestens 210 Millionen zu hoch angesetzt. Damit könnte der jüngste Beschluss des Aufsichtsrats, den unterirdischen Verkehrsknoten zu bauen, zu einem Fall für die Staatsanwaltschaft werden
von Peter Freytag und Jürgen Lessat
it Stuttgart 21 wird die Deutsche Bahn (DB) wohl immer Verluste einfahren. Trotzdem soll weitergebaut werden, entschied der Bahn-Aufsichtsrat in seiner jüngsten Sitzung. Eine Mehrheit des Gremiums folgte am 5. März dem DB-Vorstand, der eine Erhöhung des Finanzierungsrahmens auf 6,526 Milliarden Euro empfohlen hatte. Weiterbauen sei das kleinere Übel, betonte Bahn-Vorstandschef Rüdiger Grube mehrfach. „Aktualisierte Kostenrechnungen“ untermauerten die Entscheidung der Gremien: Demnach ist es um 77 Millionen Euro günstiger, den Problembahnhof samt 59 Kilometer Tunnel zu buddeln als – auch nach der jüngsten Kostenexplosion um 2,3 Milliarden Euro – die Notbremse zu ziehen. Nur ein Aufsichtsrat stimmte gegen die Beschlussvorlage des Vorstands, einer enthielt sich.
Die Abweichler unter den Aufsehern lagen richtig, wie Recherchen von Kontext zeigen. Demnach wurden die „entscheidungsrelevanten zusätzlichen Ausstiegskosten“ um Hunderte Millionen Euro zu hoch taxiert. Wären alle Zahlen korrekt gewesen, hätte der Aufsichtsrat nichts anderes als das Projektende beschließen müssen. Dazu verpflichtet ihn das deutsche Aktienrecht: Auch ein staatseigener Schienenkonzern ist vor vermeidbarem Schaden zu bewahren. Paragraf 313 Absatz 3 Bürgerliches Gesetzbuch gesteht das Recht auf außerordentliche Kündigung aller Verträge zu.
Keine Transparenz bei Ausstiegskosten
Stuttgart-21-Kritiker argwöhnten schnell, dass die genannten Ausstiegskosten von zwei Milliarden Euro überhöht sind. Belegen konnten sie es nicht, da der Konzern Nachweise unter Verschluss hält. Mitgliedern des Verkehrsausschusses des Bundestags wurden zwar Unterlagen in einem Datenraum zugänglich gemacht. Sie öffentlich zu kommentieren verbot ihnen der Konzern aber unter Strafandrohung. Etwas Licht ins Dunkel kam Ende Februar, als die Beschlussvorlage für die jüngste Aufsichtsratssitzung an die Presse gelangte. Darin listet der Bahnvorstand ab Seite 7 die „finanziellen Konsequenzen“ eines Projektabbruchs grob auf. Größter Posten ist demnach die Rückabwicklung des Grundstücksgeschäfts mit der Stadt Stuttgart. 795 Millionen Euro soll allein dies kosten. Auf Nachfrage verweigert die Konzernzentrale nähere Angaben, wie man auf diese Summe kommt. „Sie können davon ausgehen, dass die Deutsche Bahn schon aus Eigeninteresse mit größter Sorgfalt die Ausstiegskosten ermittelt hat“, ließ das Unternehmen über das S-21-Kommunikationsbüro mitteilen.
Fakt ist, dass die Stadt Stuttgart im Dezember 2001 der Bahn knapp 105 Hektar Gleis- und Betriebsflächen für 459 Millionen Euro abgekauft hat. Die Flächen mit der Bezeichnung A2, A3, C1, C2 und D sollen spätestens nach Inbetriebnahme des Tiefbahnhofs für Wohnen und Gewerbe nutzbar sein. Schon beim Kauf vereinbarten die Vertragspartner ein Rücktrittsrecht der Landeshauptstadt. Es greift beim Scheitern von Stuttgart 21. „Hierzu ist vereinbart, dass die DB AG den erhaltenen Verkaufspreis zuzüglich einer Verzinsung von 5,5% p.a. ab Kaufpreiszahlung Zug um Zug gegen Rückübereignung erstattet“, heißt es in einem internen Bahnpapier vom Dezember 2009. Schon damals stand das Projekt nach einer Kostenexplosion auf 4,9 Milliarden Euro auf der Kippe. Für die Grundstücksrücknahme hatte die Bahn damals Rückstellungen von 615 Millionen Euro gebildet. Am 30. Juni 2009 genehmigte der Aufsichtsrat jedoch, die Risikovorsorge aufzulösen. Dies verhalf der Bahn dazu, das damalige Finanzkrisenjahr mit schwarzen Zahlen zu überstehen. Vorstand und Aufsichtsrat rettete es nebenbei millionenschwere Bonuszahlungen. Ende 2009 verkündete der damals neue Bahnchef Grube, dass Stuttgart 21 dank Einsparungen nun knapp 4,2 Milliarden Euro kosten werde.
Mit der im vergangenen Dezember öffentlich gemachten Kostenexplosion wurde der Grundstücksdeal erneut Thema im Berliner Bahn-Tower. Die Grundstücke sind heute rund 805 Millionen Euro wert, wie erst im Oktober 2011 durch eine Anfrage von Grünen und SÖS/Linke im Stuttgarter Gemeinderat öffentlich wurde. Nur 11 Millionen Euro für das D-Gebiet der Gäubahntrasse zog der Vorstand noch ab, um die Erstattungssumme zu beziffern. Denn der Erhalt der Gäubahn ist bereits als Folgekosten des Geißler'schen Schlichterspruchs in der S-21-Projektrechnung verbucht.
Dennoch sind die vom Vorstand genannten 795 Millionen Euro Rückabwicklungskosten zu hoch. „Nicht auf der Rechnung hat die Bahn das Teilgebiet C1 im Inneren Nordbahnhof“, sagt der Stuttgarter Gemeinderat Peter Pätzold (Grüne). Das über 13 Hektar große Areal, Kaufpreis 2001 knapp 56 Millionen Euro, bleibt auch beim Scheitern des Tiefbahnhofprojekts weiter in Besitz der Landeshauptstadt. Ein Großteil der C-1-Fläche ist längst übergeben, zwei neue Berufsschulen wurden dort gebaut. Die Rückzahlung an die Stadt vermindert sich folglich um den heutigen C-1-Verkehrswert von knapp 123,5 Millionen Euro. „Zusätzlich wären im Ausstiegsfall auch bis zu zwei Drittel der benachbarten C-2- Fläche städtebaulich nutzbar“, erwähnt Pätzold. Dies „verbilligt“ den Ausstiegsobolus der Bahn um weitere 55 Millionen Euro. Kontext liegen zudem Unterlagen vor, wonach die Bahn sogar Geld von der Landeshauptstadt zurückerwarten kann, sollte das Milliardenprojekt scheitern. Denn ohne Tiefbahnhof rollen auf den S-21-Teilgebieten A2, A3 und B weiterhin Züge. Der Bahn stünden verzinste Gelder von rund 32 Millionen Euro zu, die sie der Stadt für Bodenaushub und Geländemodellierung bereits Ende 2001 überwiesen hat.
OB Fritz Kuhn wies vor der Sitzung auf Rechenfehler hin
Summa summarum kostet die Bahn die Annullierung des Grundstücksdeals mit der Stadt Stuttgart so nur rund 585 Millionen Euro. Damit ist ein S-21-Ausstieg um mindestens 210 Millionen Euro günstiger, als es der Vorstand dem Aufsichtsrat vorgerechnet hat. Ein Ausstieg aus dem Prestigeprojekt ist für den Schienenkonzern zum heutigen Zeitpunkt mit 133 Millionen Euro deutlich vorteilhafter als ein Weiterbau. Sollte mit einem modernisierten Kopfbahnhof auch der derzeitige Abstellbahnhof verlegt werden, würden weitere 25 Hektar Gleisfläche des B-Gebiets städtebaulich nutzbar. Die Bahn würde knapp 120 Millionen Euro zusätzlich an Rückzahlungskosten sparen, was die Wirtschaftlichkeit der Ausstiegsvariante weiter erhöht. Ein Fazit der Aufsichtsratsbeschlüsse am 5. März fällt dramatisch aus: Die Aufseher trafen eine Entscheidung, die auf falschen Zahlen beruhte – was den Staatskonzern bis zu 250 Millionen Euro kosten könnte!
Doch wie kam es zu den überhöhten Ausstiegskosten? Aus Versehen oder aus Absicht? Seit Langem ist bekannt, dass die Stadt Stuttgart Teile der S-21-Flächen städtebaulich verwerten will, auch wenn der Tiefbahnhof scheitert. „Das Teilgebiet C1 kann nach erfolgter Freilegung als eigenständiges Gebiet auch unabhängig vom Bau der neuen Bahnanlagen konzipiert und alsbald hergestellt werden“, steht bereits im S-21-Rahmenplan von 1997. „Das Gebiet C1 ist heute schon bebaubar“, heißt es heute auch auf der offiziellen Homepage des Bahnprojekts.
Kontext liegt eine Mail vor, die Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) einen Tag vor der entscheidenden Sitzung an den stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden Alexander Kirchner schickte. Darin warnte der OB ausdrücklich vor Rechenfehlern bei den auf 795 Millionen Euro summierten Abwicklungskosten. „Diese Zahl ist in Frage zu stellen“, mailte Kuhn an Kirchner, der als Chef der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG die Beschäftigten im Aufsehergremium vertritt. Wie Kontext aus Kreisen des Aufsichtsrats erfahren hat, wurde Kuhns Einwand angesprochen, aber als unbegründet zurückgewiesen.
Die – falschen – Zahlen überzeugten die Mehrheit der Aufsichtsräte. Darunter auch die Vertreter des Bahneigentümers Bund. Noch Anfang Februar hatten die drei Staatssekretäre aus dem Verkehrs-, Finanz- und Wirtschaftsressort deutlich kritischer agiert. In einem an die Presse gespielten Dossier konstatierte Verkehrsstaatssekretär Michael Odenwald damals, dass es „keine ausreichende Grundlage für eine Entscheidung des Aufsichtsrats“ gebe. Vor allem wurde bemängelt, dass Bahnchef Grube und Infrastrukturvorstand Volker Kefer nur unzureichend darlegen konnten, warum Alternativen zu Stuttgart 21 verworfen wurden. Angemahnt wurde auch, dass eine gutachterliche Prüfung der Ausstiegskosten fehlte. „Der Vorstand gründet seine Fortführungsempfehlung auf der Einschätzung, die Planungsvariante sei wirtschaftlicher als ein Ausstieg, konnte aber die Ausstiegskosten nicht belastbar darlegen“, heißt es im Dossier. Bereits weniger als drei Wochen später legte der Vorstand die geforderten Unterlagen zu Ausstiegs- und Alternativszenarien dann offenbar entscheidungsreif vor.
Zweifel an Sinn und Wirtschaftlichkeit von Stuttgart 21 auszuräumen, bemühten sich im Vorfeld der Aufsichtsratssitzung auch andere. „Ich halte den Punkt, bei dem die Umkehr noch möglich ist, für überschritten“, äußerte etwa Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) gegenüber Journalisten vier Tage vor dem Sitzungstermin. „Stuttgart 21 wird gebaut“, unterstrich Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) wenige Tage zuvor in einem Zeitungsinterview. Dabei verbietet Paragraf 117 Aktiengesetz ausdrücklich die politische Einflussnahme auf Entscheidungsgremien einer Aktiengesellschaft wie der Bahn.
War es auch politischer Druck, der die Bahnaufseher zu einem bis dato unüblichen Passus im Weiterbaubeschluss veranlasste? Falls die störrischen Projektpartner mit Hinweis auf die sogenannte Sprechklausel weiter nur reden statt zahlen wollten, solle die Bahn vor Gericht ziehen, trugen sie dem Vorstand auf. Obwohl Hausjuristen bereits zuvor Klagen gegen Land und Stadt als wenig aussichtsreich bewertet hatten.
Der Finanzverfassungsrechtler Hans Meyer hatte schon 2010 in einem Rechtsgutachten für die Landtagsfraktion der Grünen die Auffassung vertreten, der Bund müsse das Gesamtprojekt Stuttgart–Ulm allein finanzieren. „Dadurch sind die Finanzierungsverträge zu Stuttgart 21 und der Neubaustrecke nach Ulm nichtig, das Land darf zukünftig keine Zahlungen leisten und kann die bereits gezahlten Mittel zurückfordern“, kommentierte der damalige Grünen-Fraktionsvorsitzende und heutige Ministerpräsident Winfried Kretschmann das Gutachten. Auch der Verwaltungsrechtler Joachim Wieland sieht nicht die Projektpartner am Zug. „Das Grundgesetz weist in Artikel 87e den Bau von Schienenwegen dem Bund und seinen Eisenbahnen als Wirtschaftsunternehmen zu“, schreibt er im Fachblatt Legal Tribune. Das Grundgesetz regele auch, wer diese bezahlen muss. „Neubaustrecke und Bahnhof müssen der Bund und sein Unternehmen Deutsche Bahn finanzieren, Land und Stadt stehen dagegen nicht in der Pflicht“, betont Wieland.
Dabei sponsert die Stadt Stuttgart den Problembahnhof bereits heute freiwillig über den vertraglichen Rahmen von 291,8 Millionen Euro hinaus. Auf Drängen ihres einstigen Oberbürgermeisters Wolfgang Schuster verzichtet die Stadt seit Anfang 2011 auf Verzugszinsen, die die Bahn wegen der verspäteten Räumung der S-21-Grundstücke zahlen müsste. Das städtische Subventionsgeschenk summiert sich in der zehnjährigen Laufzeit auf 212 Millionen Euro – fast genauso viel, wie ein verbesserter Flughafenbahnhof auf den Fildern kosten soll. Vor diesem Hintergrund dürfte ein Gericht kaum Bahnchef Grube oder Bundesverkehrsminister Ramsauer folgen, die Land und Stadt zur Mitfinanzierung der Mehrkosten drängen. Der Verdacht der Untreue zum Schaden der Bahn steht seit dem Weiterbau-Beschluss des Aufsichtsrats im Raum.
„Die Staatsanwaltschaft leitet ein Ermittlungsverfahren ein, wenn sie Kenntnis von Tatsachen erhält, die den Verdacht begründen, dass eine Straftat begangen wurde“, versprechen die deutschen Justizbehörden im Internet.