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Archiv-Artikel

Falsche Freunde

Polen zeigt sich im Ringen um die EU-Verfassung als Unruhestifter. Ursache für die sture Position ist die Weigerung der Politik, über ihre Vorstellungen von Europa zu streiten

Will Polen künftig an der Seite Spaniens mehr Geld für spanische Autobahnen erkämpfen?

Polen wird derzeit in vielen Mitgliedsstaaten der EU als einer der größten Bremsfaktoren der Union wahrgenommen. Wenn Polen seine Mitgliedschaft auf diese Weise beginne, dann bereue er das, was er im Interesse Polens getan habe, bekannte der Erweiterungskommissar Günter Verheugen kürzlich. Nun liegen die Ursprünge der polnischen Europapolitik nicht in einer bemerkenswerten Vision der Zukunft Europas. Und auch nicht in der Absicht, polnische Interessen gegen die EU-Verfassung zu verteidigen. Der polnische Kurs in der Verfassungsdebatte gründet im Innern des Landes und begann damit, dass die Europaenthusiasten das EU-Referendum im Juli gewannen.

Das Referendum wurde von dem Regierungsgipfel von Kopenhagen stark beeinflusst, der in Polen als nationaler Erfolg wahrgenommen wurde. Zudem war dem Referendum eine breite Mobilisierung aller proeuropäischen Kräfte vorangegangen, von den ganz linken bis zu den ganz rechten politischen Parteien. Für die Referendumskampagne war der überparteiliche Pakt für den EU-Beitritt eine gute Lösung, doch danach verhinderte dieser Pakt eine notwendige Debatte über die polnische Europapolitik. Um der Bevölkerung auch weiter europapolitisch ein einheitliches Bild zu bieten, nahm die Linke die nun folgenden antieuropäischen Äusfälle von Rechten und katholischer Kirche leichtfertig hin. In der öffentlichen Meinung entstand der Eindruck, sowohl das Eintreten für eine Erwähnung des Christentums in der europäischen Verfassungspräambel als auch das Eintreten für die Beibehaltung der Stimmverteilung gemäß des Nizza-Vertrags sei gleichsam eine Verteidigung nationaler Interessen.

Am Ende versuchten alle Fraktionen des Parlaments, sich als größte Verteidiger polnischer Interessen zu überbieten. Jeder, der gegen Nizza war, erschien als Verräter Polens. Auf diese Weise hat die Opposition die Regierung Miller erfolgreich in die Enge getrieben: Schafft sie es nicht, die Ergebnisse von Nizza im Verfassungsentwurf zu verteidigen, bietet sie der Opposition eine breite Angriffsfläche – in einer Situation abnehmender Unterstützung für diese Regierung könnte das ihr Ende bedeuten. Und bei einer erfolgreichen Verteidigung Nizzas wird es als Ergebnis der festen Position von Opposition und Parlament gedeutet. Währenddessen weiß der polnische Durchschnittsbürger in der Regel nur wenig darüber, was in den Verhandlungen vor sich geht. Wie soll er auch beurteilen können, ob es sich lohnt, Nizza zu verteidigen oder nicht – wenn weder Regierung noch Opposition auch nur irgendeine klare Vision von Europas Zukunft präsentieren, die die Grundlage ihrer Position wäre.

In dieser Atmosphäre erschien der „Offene Brief an die europäische Öffentlichkeit“, der von 250 Intellektuellen, Schriftstellern und Journalisten unterzeichnet wurde. Sie formulierten die Vorstellung einer EU mit föderalem Aufbau und hinterfragten, was früher ohne Diskussion als die Interessen Polens akzeptiert worden war. In der auf den Brief folgenden Debatte bildeten sich schnell zwei Lager: Verfechter des föderalen Ansatzes, die Polen an der Seite Deutschlands und Frankreichs sehen, einerseits; Verteidiger des „Europas der Vaterländer“, die eine zu tiefe Integration aus kulturellen und ökonomischen Gründen ablehnen und zudem eine Entfremdung von Amerika fürchten, andererseits. Diese Position fand Ausdruck in einem „Gegenbrief“, den einhundert Intellektuelle unterzeichneten.

Es zeigte sich, dass die Unterzeichner beider Briefe dasselbe befürchteten: ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Die einen glaubten, dass das vom Konvent befürwortete Entscheidungsverfahren zu einer Bevormundung durch Frankreich und Deutschland oder zumindest durch die vier größten Länder führen würde. Die anderen befürchteten eher, Polen werde künftig als Verhinderer gelten und aus dem Integrationsprozess herausfallen. Während die polnischen Politiker versuchen, europapolitisch ein möglichst einhelliges Bild abzuliefern, zeigen die Debatten der Intellektuellen ein vielschichtigeres Bild polnischer Interessen – und beweisen, dass die polnische Gesellschaft reif ist, unterschiedliche Positionen auszuhalten.

Inzwischen bestätigten sich sowohl die Ängste der Hardliner als auch die der Kompromissbereiten. Zunächst als belgische Abgeordnete über die Ratifikation des Beitrittsabkommens debattierten und Frankreich und Deutschland aufforderten, eine starke „Union in der Union“ zu bilden. Und dann als Frankreich und Deutschland den europäischen Stabilitätspakt de facto außer Kraft setzten und zeigten, dass einige Mitgliedsländer gleicher sind als andere.

Dass Polen auf dem Außenministertreffen in Neapel die Ergebnisse von Nizza verteidigen konnte, machte die politische Elite glauben, ihre Ziele in der EU endgültig umsetzen zu können. Doch wenn Polen Nizza gewinnt, was gewinnt es als Nächstes? Wie soll das Land von seinem Stimmgewicht Gebrauch machen, wenn es mit Deutschland und Frankreich im Streit liegt? Will es an der Seite Spaniens mehr Geld für spanische Autobahnen erkämpfen? Will es sich an der Seite Großbritanniens gegen eine weitere Vertiefung der Integration stellen und sich weigern, in die gemeinsame Kasse zu zahlen – aus der auch die polnischen Kleinbauern demnächst subventioniert werden?

Ich bin skeptisch, ob diese Sache sich gelohnt hat. Polen wird die Entscheidung über die Änderungen in der Stimmenverteilung vielleicht erfolgreich verzögern können, indem es einen unklar formulierten Paragrafen durchsetzt. Den werden Deutsche und Franzosen in ihrem Sinne auslegen können. Das wird auch Warschau versuchen und wird dies als Bestätigung dafür sehen, dass ein kompromissloser Kurs in der EU vernünftig ist.

Um europapolitisch weiter ein einheitliches Bild zu bieten, nahm die Linke die Äusfälle der Rechten leichtfertig hin

Einen Keil in die deutsch-französische Allianz treiben zu wollen wird Polen aber mehr Nachteile als Vorteile bringen. Den europäischen Integrationsprozess wird es eher verlangsamen als beschleunigen. Polen sollte sich dem deutsch-französischen Tandem anschließen und sich für ein möglichst weit gehend föderalisiertes Europa einsetzen, anstatt seine Interessen mit den Stimmgewichtungen von Nizza gleichzusetzen und exotische Allianzen mit Spanien und Großbritannien zu bilden. Auf diese Weise könnte Polen den französisch-deutschen Motor der EU stärken, der in letzter Zeit aus ökonomischen Gründen gestottert hat – was wiederum Befürchtungen hinsichtlich eines „Europas der zwei Geschwindigkeiten“ zerstreuen könnte. Polen würde ein attraktiver Partner für die dynamischsten Länder Europas. Für Zweifel, ob die EU-Erweiterung zu früh kommt und sich die Europäische Union zu einer bloßen Freihandelszone entwickelt, würde kein Raum bleiben. Und auch die schlechteste aller vorstellbaren Entwicklungen, dass der Verfassungsprozess nämlich mit einer Desintegration Europas enden könnte, würde verhindert.

SLAWOMIR SIERAKOWSKI

aus dem Englischen von Heike Holdinghausen