Falschaussage in den 80ern: Spätes Geständnis eines Polizisten
Eine Abgeordnete wird wegen Beamtenbeleidigung angezeigt und verurteilt. 25 Jahre später gesteht ein Polizist: "Wir haben gelogen". Er und der Anwalt erinnern sich.
Der Polizist
"Es war der letzte Höhepunkt des Kalten Krieges. Am 23. November 1983 beschloss die Bundesregierung, die Pershing-II-Rakete für die Amerikaner aufzustellen. Die Debatte im Bundestag tobte bis tief in die Nacht, während draußen die Friedensbewegung demonstrierte. Um Störungen zu verhindern, waren mehrere tausend Polizisten aus dem gesamten Bundesgebiet in Bonn zusammengezogen worden.
Als Hüter des Rechtstaats sind Polizisten der Wahrheit besonders verpflichtet. Nicht umsonst leisten die Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft ihren Amtseid auf das Grundgesetz. Mit ihrer Hilfe sollen Straftaten aufgeklärt und die Gerichte befähigt werden, gerechte Urteile zu fällen. So die Theorie. Strafverteidiger haben immer wieder mit Fällen zu tun, in denen Bürger aufgrund von falschen Anschuldigungen durch Polzisten verurteilt werden. Dass es über die Anzahl der Fehlurteile keine Statistik gibt, liegt auf der Hand: Es lässt sich meistens nicht beweisen. Fakt ist: Ein Polizist riskiert viel, wird er ertappt. Eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr auf Bewährung kostet einen Beamten den Job.
Auch die vier Polizisten im vorliegenden Fall wären gefeuert worden, hätte der Azubi damals ausgepackt: Falsche Verdächtigung, Verfolgung von Unschuldigen, Vortäuschen einer Straftat, Falschaussage - die Palette der von ihnen begangenen Delikte ist lang. Doch nach 25 Jahren sind die Taten längst verjährt. Kein Interesse, den Fall noch mal aufzurollen, hat auch die damalige Angeklagte, Gabriele Gottwald, die zu Unrecht eine Geldstrafe wegen Beleidigung kassiert hat. Auch mit den Grünen ist Gottwald fertig.
Sie koordiniert heute für die Linkspartei im Bundestag die Arbeitsgruppe Gesundheit und Soziales. PLU
Ich war 18 und gehörte zu einer Polizeieinheit aus Nordrhein-Westfalen. Wir hatten die Aufgabe, die eingezäunte Bannmeile zu bewachen. Nur Personen, die einen Bundestagsausweis hatten, sollten wir einlassen.
Es war dunkel und furchtbar kalt. Politisch hat mich diese ganze Pershing-Debatte überhaupt nicht interessiert. Hauptsache, die Russen kommen nicht, war die Haltung im Kollegenkreis. Bei Minus zehn Grad konnten wir uns was Besseres vorstellen, als uns vor dem Parlament die Beine in den Bauch zu stehen. ,Ausgerechnet jetzt muss diese linke Brut demonstrieren', schimpften meine Vorgesetzten. Die Grünen waren damals gerade in den Bundestag eingezogen. So, wie sie sich aufführten, mochte sie keiner von uns. Denen haben wir diesen verdammten Einsatz zu verdanken, stand für uns fest.
Zusammen mit einem Kollegen, der auch noch sehr jung war, war ich an einem Seiteneingang eingesetzt. Wir waren gereizt. Nicht mal aufwärmen konnten wir uns. Da kam die grüne Bundestagsabgeordnete Gabriele Gottwald mit einem Begleiter. Frau Gottwald hatte einen Bundestagsausweis, der Mann nicht. ,Sie dürfen rein, er nicht', habe ich zu Frau Gottwald gesagt. Mein Kollege war ein stiller Typ. Ich war der Wortführer. Der Mann gehöre auch zur Fraktion, hat Frau Gottwald argumentiert. Wir sollten sie gefälligst passieren lassen. Das Gespräch wurde lauter. ,Ich mache mich hier zum Affen. Ich muss mich doch nicht von solchen Leuten verscheißern lassen', rief sie schließlich empört. Aber mein Kollege und ich haben uns so aufgebaut, dass der Mann nicht durch konnte. Irgendwann habe ich über Funk Verstärkung angefordert. Die traf in Person des Zugführers und des Hundertschaftsführers ein. Da sind Frau Gottwald und der Mann wutentbrannt abgehauen.
Auf Frage des Zugführers, wer das war, habe ich gesagt: ,Das war die Abgeordnete Gottwald. Sie hat geschimpft wie ein Rohrspatz.' Wir haben die Namen notiert. Damit war die Sache für mich erst mal erledigt.
Drei Tage später rief mich mein Vorgesetzter, der Hundertschaftsführer, ins Büro. Er habe in meinem Namen gegen die grüne Bundestagsabgeordnete Gottwald Anzeige erstattet. ,Wir müssen uns nicht von solchen Leuten als Idioten, Affen und Scheißer beschimpfen lassen', erklärte er mir. Daraufhin ich: ,Das hat sie doch gar nicht gesagt.' Er: ,Egal. Wir ziehen das jetzt durch. Ich habe es gehört, ihr Kollege und der Zugführer auch.' Das sind ja Machenschaften, hab ich mir gedacht. Der Zugführer und der Hundertschaftsführer waren bei dem Streit doch gar nicht vor Ort. Aber ich habe nicht widersprochen. Ich war ja erst 18 und mitten in der Ausbildung. Wenn man das Maul aufreißt, ist man schnell weg vom Fenster. Ich hatte den Eindruck, der Hundertschaftsführer wollte mal was erleben. In einer großen Kaserne, wie es die unsere war, kann man sich mit so was profilieren. Sonst wurden wir eher zu Einsätzen wegen Parken in der dritten Reihe gerufen.
Um ehrlich zu sein: Die Geschichte hat mir gefallen. Ich bin aus der Masse der Auszubildenden rausgetreten. Das erfüllt einen mit Stolz. Die meisten von uns waren politisch Mitte bis rechts eingestellt. Von überall habe ich Schulterklopfen bekommen. Bald war ich bekannt wie ein bunter Hund.
Der Prozess fand in Bonn statt. Die Anklage lautete auf Beleidigung. Der Zuschauerraum war voll mit Polizisten. Wir waren vier Zeugen. Ich, der Azubi, war der Hauptzeuge. Mir ging ein bisschen die Muffe, weil ich gehört hatte, dass der Ströbele der Verteidiger von Frau Gottwald ist. ,Bei dem müssen Sie aufpassen. Der hat die Baader-Meinhof-Geschichte mit vertreten', hatte mich mein Hundertschaftsführer gewarnt. Aber für den Staatsanwalt und das Gericht war der Fall von Anfang an klar. Ihre Antipathie gegen Frau Gottwald und Herrn Ströbele war deutlich zu spüren. Wenn man dann noch die Kollegen im Publikum flüstern hört: ,Gib Gas!', ,Mach weiter!', wird man, so jung wie ich war, als Zeuge richtig keck. Es war ein abgekartetes Spiel, obwohl der Ströbele sehr eloquent war. Wir vier Zeugen waren uns einig. Frau Gottwald hatte keine Chance.
Auch die Berufungsverhandlung endete mit einer Verurteilung. Der Polizei als Staatsgewalt wird grundsätzlich geglaubt. Ein Polizist, so die gängige Auffassung, lügt nicht. Schließlich ist er auf das Grundgesetz vereidigt.
Zum Zeitpunkt des Berufungsprozesses hatte ich eigentlich die Schnauze voll. Aber wenn man einmal eine Falschaussage gemacht hat, kommt man nicht mehr raus - zumal, wenn vier Leute drinhängen. Es herrscht Gruppenzwang. Außerdem war ich kurz zuvor wegen Alkohols am Steuer vom Dienst suspendiert worden. Nach einer Party hatte ich den Fehler begangen, mit 1,35 Promille intus ins Auto zu steigen. Die Trunkenheitsfahrt hat mich den Polizeiberuf gekostet, weil ich noch in der Ausbildung war. Mein Hundertschaftsführer hatte richtig Angst, dass ich vor Gericht auspacken würde. Ich hatte ja nichts mehr zu verlieren. Ich bekam Anrufe. ,Machen Sie jetzt jetzt bitte keinen Ärger. Das ziehen wir durch wie beim ersten Mal. Sie sitzen genauso mit im Boot.' Man hat mir sogar Hoffnung gemacht, dass ich vielleicht doch bei der Polizei bleiben kann. Das war natürlich ein Irrtum.
Ich war dreieinhalb Jahre Polizist. Danach habe ich mich beruflich umorientiert. Durch Erzählungen von Kollegen weiß ich, dass solche Geschichten öfter vorkommen. Ich will nicht sagen, dass das die Regel ist. Aber einige haben sich damit regelrecht gebrüstet.
Das ist heute nicht anders. Ich habe noch Verbindung zur Polizei und höre, dass nach wie vor gemauschelt wird. Man kann im Einsatz immer so oder so entscheiden. Man braucht nur eine einfache Verkehrskontrolle anzugucken. Bürgern, die frech Paroli bieten oder politisch unliebsam sind, wischt man gern mal eins aus.
Was ins Beuteschema passt, wird ausgenutzt. Ich war dabei, wie ein Obdachloser, der Kinder angebaggert hat, auf der Wache getreten worden ist. Immer in den Arsch. Selbst da hatte ich das Gefühl, dass hat er verdient. Wieso packt der Kinder an? Wir haben Obdachlose - Penner, wie wir sagten - mit dem Streifenwagen 30 Kilometer außerhalb der Stadt bei Wind und Wetter ausgesetzt.
Warum ich das alles nach 25 Jahren offenbare? Ich bin selbst Opfer eines Lügenkomplotts geworden. Es ist eine extrem demütigende Erfahrung. Ich schäme mich, dass ich mich an so etwas beteiligt habe. Ist doch klar, wem der Richter glaubt, wenn Aussage gegen Aussage steht. Die Polizei hat die Macht."
*Dieter Lehmann (Name geändert) ist 44 Jahre alt und selbstständig.
Der Anwalt
"Ein echter ehemaliger Polizist schickt mir ein Lügengeständnis. Ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich die Mail in meiner Abgeordnetenpost entdeckte. Als Strafverteidiger in politischen Prozessen hatte ich oft den Eindruck, dass Polizisten falsch aussagen. In weit schlimmeren Fällen als dem vorliegenden, in dem es ,nur' um eine Beleidigung ging. Aber an ein konkretes Geständnis eines Lügenkomplotts aus Gewissensbissen kann ich mich nicht erinnern.
In den Achtzigerjahren habe ich viele Leute verteidigt, die bei Demonstrationen und Aktionen gegen Raketenstationierung oder den Bau von Atomkraftwerken festgenommen wurden.
Es war die Zeit der unerbittlichen Konfrontationen der Polizei mit den Demonstranten der großen sozialen Bewegungen. Da wurden Straßen und Stationierungsorte blockiert, Bauplätze und Häuser besetzt. Die Polizei riegelte Stadtteile und ganze Regionen ab, kesselte Demonstranten ein und ging mit großer Härte häufig nach militärischen Einsatzregeln vor.
In den folgenden Strafprozessen gegen Demonstranten mussten zur Abschreckung Verurteilungen her. Immer wieder waren wir dabei mit Aussagen von Polizisten konfrontiert, die nicht stimmen konnten.
In trauriger Erinnerung ist mir eine besondere Gemeinheit. Ein Mandant berichtete, wie es ihm nach seiner Festnahme erging: Ein Polizist hielt ihn rechts, der andere links, während ein dritter sich Handschuhe anzog und ihm mehrfach mit der Faust ins Gesicht schlug. Vor der Festnahme war der Mann unversehrt, danach schwer verletzt. Vor Gericht sagten die Polizisten, der Festgenommene sei auf dem Weg zur Wache absichtlich mit dem Kopf gegen eine Eisentür gelaufen. Verurteilt wurde der Verletzte - wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt.
Die Gerichte haben Polizeibeamten in der Regel geglaubt, obwohl die Aussagen aus den geschlossenen Einheiten häufig offensichtlich von Corpsgeist und Kameradschaft geprägt waren. Uns Anwälten blieb nur, Widersprüche aufzuzeigen, Falschaussagen konnten wir nicht beweisen. Es gab Richter, die dann nicht verurteilten. Aber das war die absolute Ausnahme.
,Sei vorsichtig', habe ich Mandaten gewarnt, wenn sie gegen Polizisten vorgehen wollten. ,Hast du Zeugen? Gibt es Fotos?' Wenn nicht, habe ich von Strafanzeigen abgeraten, um die übliche Reaktion mit Gegenanzeigen zu vermeiden.
Seither fordern wir mit Bürgerrechtlern die individuelle Kennzeichnung der Polizisten in geschlossenen Einsätzen. Die amtliche Vermummung mit Uniform, Helm und Gesichtsschutz verhindert die Identifizierung eines Straftäters aus den Reihen der Polizei. Aber kein Bundesland traut sich bisher, diese Forderung umzusetzen.
Heute bemüht man sich, harten Konfrontationen von Polizei und Demonstranten entgegenzuwirken - und es gibt viel mehr Beweismittel, wie Fotos und Videos.
Aber zu Falschbeschuldigungen durch Sicherheitskräfte kommt es immer noch. In meinem letzten Fall als Strafverteidiger habe ich es erlebt. Für einen Angeklagten gibt es kaum etwas Gemeineres, als zuerst zusammengeschlagen und dann aufgrund einer Falschaussage auch noch zu Unrecht verurteilt zu werden. Kein Wunder, wenn ein Justizopfer nach so einer Erfahrung mit dem Rechtsstaat fertig ist."
Christian Ströbele, 69, ist seit 1967 Rechtsanwalt. Im Bundestag, wo er seit 1998 für die Grünen sitzt, ist er unter anderem für Polizei und Sicherheitsdienste zuständig.
PROTOKOLLE VON PLUTONIA PLARRE
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