: Fabulieren im freien Fall
Thorsten Beckers Groteske „Schönes Deutschland“ verfängt sich in krudem Bildungsschwulst ■ Von Thomas Groß
Bei Gott und Goethe! Wenn in einem Romanwerk von weniger als 190 Seiten nach kurzer Introduktion durch den Verfasser die Herren Müller, Zadek, Brecht und Honecker (in order of appearance) auftreten, darüber hinaus Gregor Gysi, Stefan Heym, Nina Hagen, Wolf Biermann, Udo Lindenberg, Rio Reiser, Kurt Biedenkopf, Sahra Wagenknecht, Element of Crime sowie der Baron von Münchhausen eine Rolle spielen, dann hat der Autor sich entweder Großes, Allzugroßes zum Vorwurf genommen, oder er schaut von einem fernen Punkte aus auf diese unsere Zeit, deren Handelnde sich ihm zu Figuren in einem Guckkasten verkleinert und versimpelt zeigen – Theatrum mundi, gewissermaßen. Daß aber der Unterzeichnete der Auffassung zuneigt, beides sei im Falle des neuerlichen Outputs von Thorsten Becker zutreffend, mag vorläufig immerhin durch einen Spruch des Mannes selbst angedeutet sein: „Die Welttheorie des Schauspielers ist, daß am Ende doch alles gespielt sei.“
Phantasie muß man halt haben! Und einen Ton, der über die Abgründe von Raum und Zeit hinwegfedert. Becker, der sein Bändchen auf Effekt bedacht „Schönes Deutschland“ geheißen hat, düpiert die geweckte Sinnerwartung (nun doch noch: Der Zeitroman zum Bücherherbst!) zunächst einmal, indem er vom Jahre 2048 aus durchstartet. Der dritte Weltkrieg liegt bereits hinter uns, ganz Europa ist aufgeteilt zwischen den Siegermächten China und Brasilien, die naturgemäß ihre eigene Geschichtsschreibung haben walten lassen. Nur im fernen Mexiko sitzt ein alter Mann, der noch weiß, daß Deutschland Ende des zwanzigsten Jahrhunderts keineswegs jener romantische Staat war, den chinesische Schwärmer im Rückblick aus ihm gemacht haben. Mit zitternder Feder legt er Zeugnis ab von den Vorfällen jenes Tages, als nach bangen Stunden endlich „die blasse Orange der Novembersonne über den Fassaden und Brandmauern aufstrahlte und Licht über die Wirrnisse in meiner Seele warf“.
Im behäbigen Tonfall alter Meister, dem Becker immer wieder allerhand Maximen und Reflexionen beizumengen weiß, sieht der Leser sich an der Hand genommen und zurückgeführt in das Deutschland unserer Tage. Es ist ein Puppenstubendeutschland theaterhafter Akteure, und tatsächlich rankt die krause Handlung sich um eine real existierende Bühne, das traditionsreiche Berliner Ensemble, an dem der Held, ein assimilierter Wessi und alkoholischer Frauenfreund, auf Brecht-Rollen abonniert ist. Indes, die gerade erst niedergerissene Front zwischen Ost und West beginnt sich in der kleinen Welt erneut zu verhärten. Heiner Müller, der hier (V-Effekt!) Fritz Meier heißt, ein Mann mit Interesse für Militärtheorie, steht gegen seinen Kontrahenten, den intriganten Toscaner Rinconi, und gerade als es so aussieht, als sei es mit Meier endgültig vorbei, kehrt er in einer spektakulären Haupt- und Staatsaktion zurück.
Es bedarf einer Massenkundgebung vor dem Reichstag, um dem pikaresken Helden begreiflich zu machen, daß Westberlin kassiert und die DDR wiederhergestellt ist, ein Theatercoup, bei dem Becker mächtig die Puppen tanzen läßt: Erich aus dem Grab zurück, Fritz Meier als postpreußischer Staatsdichter, der den eitlen Protagonisten in sein augurenhaftes Geschäft hineinziehen will. Doch aus Liebe zu einer sexy DDR-Bürgerin namens Kerstin, die Müller/ Meier schon immer für einen verkappten Stalinisten gehalten hat und stracks gen Westen entflieht, treibt es auch ihn ins andere Deutschland zurück, wo er feststellen muß, daß die Mauer wiederaufgebaut worden ist (aus durchsichtigem Plastik!) und beide Staaten ihre Bürger vermittels getürkten Fernsehmaterials und Politikermarionetten in Schach halten. Alles kulminiert in der Erkenntnis, „daß das, was ich vor den Erlebnissen, die hier dargelegt sind, für Geschichte gehalten hatte, nichts als ein gut formbares Material darstellte, aus dem sich die jeweils Herrschenden in aller Freiheit zimmerten, was sie für ihre Einrichtung benötigten“.
Wer sich soweit vorangekämpft hat, mag geneigt sein, die medienkritische Note für einen der vielen Einfälle zu nehmen, mit denen dieser Autor sich interessant zu machen beliebt, und auf weiteres hoffen, allein, er markiert bereits das Herzstück dieses Fabulierens im freien Fall. „Gegen den Strom der Geschichte“ möchte der aus Mexiko hergewehte fiktive Augenzeuge schwimmen, und das heißt hier letztlich: Er möchte eine Wahrheit des Erzählens gegen die sekundären Interpretationen von Rundfunk und Glotze behaupten. Alles nur gespielt! Was uns in unserer historischen Befangenheit als „Einheit“ verkauft wird, ist nämlich – so die Message – ein Witz, den allein noch die Literatur als solchen zu erzählen vermag.
Täte sie es nur, man wäre halbwegs versöhnt mit dieser theatralischen Sendung, schließlich: Haben nicht die meisten genug von dem rhetorischen Zauber um blühende Landschaften, ABM-Maßnahmen und mehr oder weniger dicke Männer? Doch Becker, der mit seinem Debüt „Die Bürgschaft“ (frei nach Schiller) schon einmal die DDR als quasi vormodernen Raum der Geschicht(ch)en verklärt hat und sich seither auf einer unendlichen, praktisch erfolglosen Suche nach dem geeigneten Stoff befindet, schafft es realiter nur, ein paar populistische Befindlichkeiten mit bildungshuberischem Gedöns zu verbrämen. Er spekuliert darauf, daß dieser krude Mummenschanz um Ost-West-Verwicklungen als genuine Persiflage der Verhältnisse durchgehen mag, vermag es aber nicht einmal, die Lust an seinen eigenen Figuren aufrechtzuerhalten. Gegen Schluß bricht der Held aus seinem Medienknast aus, hat finalen Sex mit Kerstin auf einer Pferdekoppel, bevor die Intervention der chinesischen Botschaft dem Ganzen ein ächzendes Ende bereitet. Ein letztes Mal grüßt Heiner/Fritz aus dem Theaterfundus: Die Geschichte reitet auf toten Gäulen ins Ziel.
Indes, um abermals in jenem Tone zu sprechen, den zu praktizieren der Magister Becker sich zur festen Gewohnheit hat werden lassen: Etliche im Geistesleben der verwirrten Republik – mit Bedacht gesagt: nicht einmal unsere Schlechtesten – mögen im Trümmerhaufen alkoholisch entzündeter Phantasie, den dieses Druckwerk, zugegebenermaßen nicht ohne eine gewisse Kunstfertigkeit, vor unserem inneren Auge erstehen läßt, weiterhin nach Allegorien und anderen Sinnfragmenten fahnden. Habent sua fata libelli! Martin Wuttke, bekanntlich der leibhaftige Nachfolger Müller/ Meiers am Berliner Ensemble, hat dortselbst bereits unter reger öffentlicher Anteilnahme aus Beckers Werk gelesen, und der Verlag, der mit Thomas Brussigs „Helden wie wir“ bereits im vergangenen Jahr einen ganz ähnlich gelagerten Coup hat landen können, preist „Schönes Deutschland“ als „einen der aufregendsten Theaterromane des 20. Jahrhunderts“.
Es nähme, so gesehen, nicht wunder, hielten künftige Rezensenten den literarischen Hanswurst und Superkulturschwindler Becker am Ende doch noch für einen richtigen Schriftsteller und gelehrten Kopf.
Thorsten Becker: „Schönes Deutschland“. Roman. Volk und Welt, 186 Seiten, 38 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen