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taz FUTURZWEI mit Aldeida Assmann „Güte ist wichtiger als Radikalität“

Warum haben die Finnen Gemeinsinn und wir nicht? Peter Unfried und Harald Welzer im Gespräch mit Aleida Assmann.

„Mit Gemeinsinn kann man auch Strukturen verändern.“ Foto: dpa | Paul Zinken

taz FUTURZWEI: Liebe Frau Assmann, warum kommen Sie und Ihr Mann jetzt mit Gemeinsinn daher?

Aleida Assmann: Seit Frühjahr 2020 war mit der Corona-Pandemie das Stichwort Zusammenhalt an die allererste Stelle der politischen Rhetorik geraten. Die Konjunktur dieses Begriffs nahm zu, weil die Zersplitterung der Gesellschaft, die Polarisierung, sich vor vier Jahren bereits deutlich abzeichnete. Zusammenhalt ist etwas, was man beschwört. Wir wollten dem einen anderen Begriff daneben setzen.

Wie waren die Reaktionen?

Wir wurden eher belächelt. Gemeinsinn galt als harmlos, gut gemeint, blauäugig, was auch immer. Ach, immer diese braven, bürgerlichen oder zivilen Tugenden, das war damals die Resonanz. Heute ist das ganz anders, denn wir sehen tatsächlich, dass uns etwas fehlt. Eigentlich haben wir nur unsere Kultur mit einer Taschenlampe neu beleuchtet und festgestellt, dass es sehr viele Ressourcen gibt, die nicht genutzt, nicht anerkannt oder nicht aktiviert sind. Gleichzeitig lohnt es sich, die vielen, vielen Wunden und die Verbrechen gegen diesen Gemeinsinn kritisch in den Blick zu nehmen, die die Geschichte eben auch aufzuweisen hat.

Bild: Daniel Delang
Aleida Assmann

Die Frau: Professorin für englische Literatur und allgemeine Literaturwissenschaft an der Uni Konstanz, Gastprofessuren u. a. in Princeton und Yale.

Jahrgang 1947, geboren in Bethel, lebt in Konstanz.

Forschte und publizierte regelmäßig mit ihrem im Februar 2024 verstorbenen Mann, dem Ägyptologen Jan Assmann. Greatest Hit der beiden womöglich: Theorie des kulturellen Gedächtnisses.

Das Buch (mit Jan Assmann): Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn. C.H.Beck 2024 – 262 Seiten, 25 Euro

Was macht das Wort Gemeinsinn produktiver als „Zusammenhalt“, „Solidarität“ oder was man sonst so in Sonntagsreden predigt?

Gemeinsinn ist der sechste soziale Sinn. Es ist in der antiken Psychologie immer selbstverständlich, dass wir nicht nur fünf Sinne haben, sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen, sondern den sechsten Sinn, der alle diese Sinne zusammenfasst und uns erlaubt, mit unseren Sinnen auch Urteile zu fällen und ein Wissen aufzubauen. Dadurch, dass wir nicht nur die Sinne vereinigen, sondern uns auch in Absprache mit und Abhängigkeit von anderen Menschen zusammen dieses Bild der Wirklichkeit erschaffen, ist das immer sozial.

Der Nationalsozialismus predigte auch Gemeinsinn.

Der Begriff kann ganz unterschiedlich verwendet werden. Die deutsche Volksgemeinschaft hatte sehr viel mit Gemeinsinn am Hut, stellte individuelle Bedürfnisse ständig zurück und glaubte damit, moralisch immer auf der richtigen Seite zu sein. Dieser Gemeinsinn konnte sich nur auf Kosten eines ganz starken und ausschließenden Feindbildes ausprägen. Das hat zur Folge, dass dieser Begriff nicht einfach so übernommen werden kann, sondern wieder neu gefasst und aufgebaut werden muss, in einer Gesellschaft, die kein einheitliches Volk konstituiert, sondern divers ist. Es ist eine Gesellschaft, die in einer ganz neuen Weise auseinanderstrebt, aber durchaus in der Einheit dieses Staatswesens hier ihren Ort gefunden hat, um miteinander zu leben.

Zweite Grundsatzfrage: Was ist der Unterschied zwischen Gemeinsinn und Gemeinwohl?

Gemeinwohl ist das, was der Herrscher oder die Regierung im Auge haben muss: Was ist nicht polarisierend oder ausschließend, sondern für die ganze Gesellschaft wichtig? Was ist für alle das Wichtige und Beste? Diese Perspektive geht eher von oben aus, von der Macht, die sich auch immer dadurch legitimiert, dass sie sich am Gemeinwohl orientiert. Insofern gehört dieser Begriff sehr entscheidend in die Geschichte der politischen Begriffe.

Gemeinsinn hat das Individuum?

Ja. Gemeinsinn ist für uns ein ganz wichtiger Ergänzungsbegriff für den westlichen Begriff des Individuums. Alle Rechte, die in der Geschichte dem Individuum zugefallen sind, die ganzen Freiheitsrechte, die im Katalog der Grundrechte erscheinen, stützen immer das isolierte Individuum. Das ist eine ganz wichtige und vollständig zu unterstützende Entwicklung der Geschichte und der Politik.

Aber?

Es hat den Nachteil, dass damit, auch in der Philosophie, eine andere Perspektive auf den Menschen wegfällt, die selbstverständlich ist, uns aber abtrainiert wurde: dass ein einzelner Mensch gar nicht existieren kann ohne Mitmenschen. Diese westliche Perspektive hat zu einer gewissen Verblendung geführt. In der Philosophie ist es immer das autonome Subjekt, das der Welt oder anderen Dingen gegenübersteht als isolierter männlicher Mensch.

Nur männlich?

Aus weiblicher Perspektive gibt es eine solche Isolation des Einzelmenschen sowieso nicht.

Jetzt haben Sie ja schon angedeutet, dass Leute auch gesagt haben: Gemeinsinn? Oje. Wie komme ich von der rhetorischen Bekundung des Gemeinsinns dazu, auch tatsächlich für das Gemeinwohl zu wirken?

Zunächst mal, indem man sich den Begriff zurückholt und ihn philosophisch aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Wir können aber auch die psychologische oder physiologisch-neurowissenschaftliche Position nennen. Nehmen Sie den Begriff der Empathie. Den gab es schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts, aber erst mit dem Jahr 2000 wurde er uns durch die Naturwissenschaften neu zurückgegeben.

Inwiefern?

Indem durch bildgebende Verfahren gezeigt werden konnte, dass jeder Mensch mit Empathie ausgestattet ist. Ein Kind fängt schon mit 14 Monaten an, bestimmte empathische Reaktionen zu zeigen, die nicht nur mimetisch sind, sondern signalisieren, dass man in den Köpfen der anderen mitdenken und weiterdenken kann. Diese Fähigkeit zur Kooperation, sagen die Entwicklungsbiologen, ist die Grundlage dafür, dass Menschen überhaupt das Wissen ihrer Artgenossen nutzen und Kulturen aufbauen können, die sie weitergeben. Man hat inzwischen auch festgestellt, dass Empathie nicht nur eine moralisch gute und lobenswerte Sache ist, sondern dass sie auch gesundheitsfördernd ist. Egoismus dagegen, Neid und diese Dinge, können sowohl die Lebensqualität mindern als auch den eigenen Status anfressen. Das ist etwas, was auch in der jüngeren Generation zunehmend eine Rolle spielt, da sie das durchschauen.

Woran machen Sie das fest?

Die neue taz FUTURZWEI

taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°31: GEMEINSINN

Gemeinsinn gilt manchen als gut gemeint, salonlinks oder nazimissbraucht. Kann und wie kann Gemeinsinn zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen?

Mit Aleida Assmann, Armin Nassehi, Barbara Bleisch, Florian Schroeder, Jagoda Marinić, Wolf Lotter, Heike-Melba Fendel, Florence Gaub, Paulina Unfried, Tim Wiegelmann und Harald Welzer.

Erscheint am 10. Dezember 2024.

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Das beste Beispiel dafür ist der sogenannte amerikanische Traum. Das ist ja ein Zukunftsversprechen an alle in die USA Eingewanderten, dass sie es weit schaffen, wenn sie sich anstrengen und sich voll investieren. Das war auch großartig, weil es in der Einwanderung im 19. und 20. Jahrhundert sehr gut gewirkt hat. Aber inzwischen sieht man auch, dass es ein sehr unbarmherziges Regime des Wettbewerbs und der Leistungsträger ist, dass Menschen da oft zu kurz kommen, jedenfalls die Lebensqualität oder die Ausbildung zum Menschsein. Die Harvard-Soziologin Michelle Lamont stellt fest, durch ganz viele Interviews mit Jugendlichen in den USA, dass sie eben nicht mehr dahinein investieren wollen und damit eine Gesellschaft befördern, die systemische Ungleichheit und Diskriminierung erhält. Man könnte sagen: Diese älteren Werte, die da gegolten haben in Amerika, sind am Abflauen, und etwas Neues entsteht.

Wir sehen auf der anderen Seite gerade in Amerika den Prozess der Hyperindividualisierung, wie er insbesondere von den Libertären favorisiert wird. Der sogenannte Raubtierkapitalismus: Jeder ist auf sich gestellt. Die Kategorie des Gemeinsinns wird in diesem Raubtierkapitalismus externalisiert an die Leute aus der Kirche oder der Heilsarmee, ist aber kein Kernbestandteil des Kulturkonzepts. Ein Gegenkonzept zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist die faschistische Gemeinschaftsbildung.

Ich würde sagen, der Kern des Kulturkonzepts, der mit dem Gemeinsinn-Begriff auch zusammenhängt, ist der Begriff der Anerkennung. Wir haben eine Revolution der Anerkennung hinter uns, die darauf aus ist, dass das Individuum eben nicht mehr in der Isolation von allen anderen gesehen wird und nur auf seinen eigenen Erfolg hin ausgerichtet ist, sondern dass es sozialer wird, dass es nicht in einer Gesellschaft lebt, in der permanent auf- und abgewertet wird. Dieser massive Entwertungsprozess, also der systemische Rassismus in einer Gesellschaft, der fällt den jungen Menschen immer mehr auf. Das Klima ändert sich gerade massiv und in diesem Sinne glaube ich, dass es gerade diese Kulturrevolution ist, diese schleichende Kulturrevolution, die Amerika gerade sehr verändert.

Es gibt aber eben auch den Trumpismus und in östlichen Bundesländern haben ein Drittel der jungen Menschen derzeit als favorisierte Partei die AfD. Sie haben Ihr Buch auch nicht aus einem Überangebot an Gemeinsinn geschrieben, sondern aus dem Gegenteil heraus?

Das hängt unmittelbar miteinander zusammen. Die Veränderung in der Gesellschaft, die ich gerade beschrieben habe, die zunehmende Würdigung von Menschen mit anderer Herkunft und Erfahrung, macht vielen Angst. Sie fühlen sich an den Rand gedrängt. Schon dass sich die Geschlechtsrollen verändern, stößt manche vor den Kopf und hat dazu geführt, dass in rechtsextremen Kreisen der Schutz der patriarchalischen Familie zu einem neuen politischen Losungswort geworden ist.

Wir sind ja ein Magazin für Lösungen und Ihre Erkenntnis ist: Bei den Finnen funktioniert der Gemeinsinn, aber in der Bundesrepublik offensichtlich nicht ganz so gut. Was genau machen die Finnen richtig?

Emotionen sind in Finnland Teil der Schulbildung. Die Schüler lernen, dass sie es mit Emotionen zu tun haben, die sie nicht immer kontrollieren können. Die kommen von außen, und mit denen müssen sie sich anfreunden. Unterricht über Emotionen führt dazu, dass man weiß, was man in sich hat und wie man damit umgeht. Was es in Finnland auch nicht gibt, ist diese Priorität des Neids: Sich ständig vergleichen und dann feststellen, dass man zu kurz gekommen ist. Man vergleicht immer, wie viel besser es die Geschwister haben oder auch andere in der Klasse. Das sind alles Techniken, um unglücklich zu werden. Und historisch betrachtet war Sozialneid das Gift des Antisemitismus, das soziale Beziehungen und Bindungen zerstört hat.

Was ist dann mit Milliardären in Finnland? Ist man auf die auch nicht neidisch?

Ich glaube, auf Milliardäre kann man nicht neidisch sein, weil der Abstand zu groß ist. Es muss ja eine realistische Überbietungsmöglichkeit geben. Milliardäre sind eine kleine Gruppe von merkwürdigen Existenzen, die eine eigene Gattung bilden. Zumindest Elon Musk kann man doch nicht mit irgendeinem anderen Menschen vergleichen.

Sie scherzen?

Ganz einfach: Meine Empathie scheitert, wenn ich versuche, mich in einen Menschen einzudenken, der es sich gerade auf dem Mars bequem machen möchte.

Es gibt auch Milliardäre, die sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen.

Wenn man so viel Geld verdient, dann muss man gucken, dass die Steuer einem nicht alles wegnimmt. Also macht man eine Stiftung. Und dann gibt es den Stifterverband. Da sind alle jene drin, die sich gemeinsinnig und gemeinnützig und gemeinwohlinteressiert zeigen.

Sie sagen im Buch, es gibt drei Grundlagen, die man braucht, um Gemeinsinn im Menschen zu etablieren. Bildung haben Sie genannt. Die zweite ist, dass der Staat darüber hinaus eine Basis schafft. Die dritte ist, dass die Mediengesellschaft nicht in einer emotionalen Dauererregung agiert und die Polarisierung und Entsolidarisierung als Geschäftsmodell betreibt. Alle drei Dinge haben wir im Moment nicht.

Ganz genau, das unterschreibe ich zu 100 Prozent. Das eine ist das, was in den Schulen passieren muss, das andere sind die Rahmenbedingungen, für die der Staat Verantwortung übernehmen muss. Zum Beispiel mit dem Konzept Housing First, das Obdachlose wirklich von der Straße holt. Und das dritte und derzeit größte Problem ist, dieser Entfesselung von Hass und Verächtlichmachen etwas entgegenzusetzen, die ganze negative Energie, die da im Moment in den Medien fließt. Das hat sich in den letzten vier Jahren riesig gesteigert. Die Unwohlmeinenden machen sich breit. Warum dient es dem Profil von Zeitungen, einseitig zu berichten oder Sündenböcke vorzuführen? Das lässt mich völlig verständnislos zurück.

Das Wohlmeinende ist im Grunde genommen das Konstitutive für eine Demokratie? Und Kultivierung des Gemeinsinns ist etwas, was fehlt und viel stärker gemacht werden müsste, oder?

Ganz genau. Wir haben da eine Lücke, die wir jetzt immer stärker fühlen. Ein paar Sätze haben mir da weitergeholfen, zum Beispiel ein schöner Satz, den ich beim Philosophen Odo Marquard gefunden habe.

Der lautet?

„Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet.“ Das ist ein wunderbarer Anti-Carl-Schmitt-Satz. Den möchte ich mir wirklich über den Schreibtisch hängen. Ein anderer Satz stammt von Rainald Goetz: „Güte ist wichtiger als Radikalität.“ Daraus spricht die Art von Gemeinsinn, um die es hier geht. Aus diesen Sätzen spricht eine Gelassenheit, die wir uns da verordnen müssen, das ist etwas, was ich für sehr wichtig halte.

Ruhe, Nachdenken, Besonnenheit, das steht gegen das Geschäftsmodell der Erregung, gegen das politische Geschäftsmodell der Destruktivität. Gegen die Fetischisierung der Zerstörung, um etwas Neues zu machen, mit dem man für einen gewissen Zeitraum Geld verdient. Wie steht der materielle Bewegungsprozess der Gesellschaft zu Ihrem Überbauprozess? Wir sind ja immer schwächer als das, was handfest gemacht wird.

Wir sind vielleicht schwächer, aber wir können doch Menschen überzeugen, ich bin da nicht unoptimistisch. Und für mich war eine Situation in einem Wahlkampf-Gespräch zwischen Kamala Harris und Trump emblematisch. Statt sich von irgendetwas aufregen zu lassen, was er erzählte, sagte sie nur: „Let's turn the page.“ Die alte Rhetorik, die alten Spiele sind doch langweilig! Wir haben immer die Gelegenheit, weiterzublättern.

Eine Entwicklung der Zeit ist die Sehnsucht nach Frührente. Manche Elitestudenten wollen schon mit 35 aufhören zu arbeiten. Aber nicht, um sich für das Gemeinwohl zu engagieren, sondern um sich mit sich zu beschäftigen. Wir haben in diesem Heft gelernt, dass gelebter Gemeinsinn glücklicher macht, weil das über einen selbst hinausweist. Aber wie geht das konkret?

Dafür haben wir den letzten Teil des Buches geschrieben und Beispiele zusammengesammelt.

Heldinnen und Helden des Gemeinsinns nennen Sie die Leute.

Das sind alles lokal verankerte Projekte, über die nicht in den überregionalen Medien berichtet wird, allenfalls gibt es mal ein Radiofeature. Diese lokalen Geschichten haben wir gesammelt, übrigens nicht nur in Deutschland. Besonders wichtig sind mir zwei afroamerikanische Frauen, die eine Rechtsanwältin, die andere Musikerin. Die haben in Philadelphia ein ganz neues Modell entwickelt für Menschen in Schwarzen Communities, die aus ihren Wohnungen rausgeworfen werden, wenn da gentrifiziert wird. Sie beraten und begleiten diese Leute und ermöglichen, dass die ein lebenswertes Leben weiterführen können und das auch gewürdigt wird. Wenn man sich so etwas anschaut, dann merkt man: Mit Gemeinsinn kann man auch Strukturen verändern.

Gemeinsinn, das steckt auch in dem Wort, ist etwas, worin man sich mit allen anderen Menschen gemein fühlt. In der individualistischen Distinktionskultur möchte man sich ja aber nicht mit allen anderen Menschen gemein fühlen, sondern möchte sich unterscheiden.

Was uns unterscheidet, physisch, psychisch, emotional, legen wir ja nie ab. Das wäre absurd. Wie soll denn das gehen? Das ist ja unser Temperament. Das ist unsere Geschichte. Das ist unsere Mentalität und unsere Kultur. Das sind wir. Wenn es um das sich Gemeinfühlen geht, dann geht es darum, dass es uns darüber hinaus verbindet. Wir haben das ja in der Friedenspreisrede 2018 mit dem Zitat von Karl Jaspers beschrieben: „Wahr ist, was uns verbindet.“ Es gibt immer etwas, was uns über Grenzen hinweg verbinden kann, und wenn das funktioniert, dann ist es auch wahr. Das ist jedoch etwas ganz anderes als zu sagen: Was uns verbindet, ist wahr!

Das müssen Sie erklären.

Dieser Satz bedeutet nichts anderes als: Wir haben recht und ihr habt unrecht. Das, was wir gemeinsam haben, müssen wir nämlich erst einmal gemeinsam auffinden im Sinne eines grenzüberschreitenden und integrativen Akts. Die Grenzen werden dabei nicht abgebaut. Natürlich, Identitäten haben sich vermehrt. Es gibt sie individuell und kollektiv und es geht auf keinen Fall darum, sie abzuschaffen. Es geht nur darum, dass sich der Diskurs innerhalb dieser Identitäten nicht nach außen abschließt, sodass sie hermetisch werden oder sich verabsolutieren.

Genau das droht. Wie verhindert man das?

Es gibt immer eine Öffnung, hin zu etwas, was man mit einer anderen Gruppe teilen kann. Vieles kann man mit anderen teilen, die ganz anders sind: Geschichte, Erfahrungen, Gefühle und nicht zuletzt: konkrete Projekte – das meinen wir, wenn wir sagen: Wahr ist, was uns verbindet.

Da können wir jetzt zum Unterschied zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft kommen. Gesellschaft definieren Sie als Rahmen für Verschiedene, Gemeinschaft als Gruppe von Gleichen. Da ist die Frage vom Anfang unseres Gesprächs zurück, wie man mit Gemeinsinn und Gemeinwohl nicht automatisch bei Gemeinschaft landet, also einer homogenen Gruppe?

Der Gemeinsinn ist erst mal von der Gruppe her winzig klein, deswegen sage ich nochmal: Er beschränkt sich auf Nahverhältnisse und lokale Aktivitäten. Es geht dabei immer um menschliche Begegnungen. Begegnen bedeutet, dass die Begegnung etwas ermöglicht, was die Medien uns oft versperren, dass man nämlich einen anderen Menschen wirklich kennenlernt, dass er konkret wird. Unsere Gesellschaft verändert sich im Moment rasant und wird sehr heterogen und divers. Wie Ulrich Beck das mal ausgedrückt hat: „Jetzt wächst zusammen, was nicht zusammengehört.“ Die Differenz, das Disparate, dieses nicht zusammengehörende Zusammenwachsen, ist das, was den Alltag prägt. Die Frage ist, wie man im Alltag mit dieser Differenz umgeht.

Wie?

Man hat es im Alltag immer mit Individuen zu tun und eben nicht mit abstrakten Gruppen. Aber wenn wir darüber lesen in den Zeitungen, steht jedes Individuum oft für eine kollektive, geschlossene Gruppe. Das heißt, den Menschen sieht man gar nicht oder nimmt ihn gar nicht wahr. Das gilt auch für die Gender-Hysterie. Menschen fühlen sich unmittelbar bedroht von irgendeinem Diskurs, der sie eigentlich gar nichts angeht. Sie kennen auch niemand, den das betrifft, aber sie stürzen sich darauf und machen es zu ihrem Lebensthema, dass sie das ausmerzen müssen, denn sie halten es für den Untergang des Abendlandes. Je abstrakter die Themen gehalten werden, desto mehr Energie kann man reinpumpen in der Ausformung von Hass, Gewaltfantasien und Bösartigkeit. Wenn man es aber mit Menschen selbst zu tun hat, entwickeln sich diese Strukturen völlig anders.

Gemeinsinn muss sich materialisieren. Man kann nicht einfach für Gemeinsinn sein, sondern er existiert nur praktisch. Hass und Hysterie dagegen müssen nie belastbar sein und kosten auch nichts. Deshalb ist das so attraktiv.

Ja, Gemeinsinn ist praktisch. Ist alltäglich, ist kleinteilig, ist face to face und ist natürlich auch immer instabil, je nachdem, wie die Gruppe zusammenarbeitet. Und im anderen Falle sind das einfach festgefügte Glaubenssätze. Aber die nehmen unsere Gesellschaft extrem mit. Aber wenn ich noch einen grundsätzlichen Satz sagen darf?

Bitte.

Die Demokratie hat aus sich heraus eine Struktur entwickelt, die hingeht zu immer mehr Abbau von Ungleichheiten. Am Anfang galten die großen Befreiungsgesetze, Menschenrecht und so weiter immer nur für weiße Männer. Bis dann die Frauen dazukamen, die ehemaligen versklavte Menschen und all die anderen, hat es furchtbar lang gedauert. Grundsätzlich aber ist dieser Drive, Ungleichheiten abzubauen, in eine liberale Demokratie eingebaut. Dass das auch viele vor den Kopf stößt, kann ich nachvollziehen. Wir sind in einer massiven Transformation unserer Grundannahmen über die Welt: Wie sie aussieht, wie sie funktioniert und wie Menschen miteinander agieren. All das ändert sich im Moment rasant und das führt zu Unsicherheiten, die dann wieder zu temporären Blockaden führen. Das muss man alles wissen, aber wenn man das weiß, kann man auch sehen: Langfristig ist das ein guter Prozess, der nicht aufzuhalten ist, weil diese demokratisierende Dynamik in der Gesellschaft selbst drinsteckt.