FRÜHER HÄTTE MAN BEBAUUNG WIE NICHTBEBAUUNG FÜR FASCHISTISCH GEHALTEN : Leute um die 50 sehen anders aus
VON DETLEF KUHLBRODT
Irgendwie ist man plötzlich in den Sommer hineingerutscht. Seit einer Woche wurde gesagt, es würde regnen, stürmen, kälter werden. Doch nichts geschah. Ab und zu hatte es wohl tatsächlich geregnet, am Samstagmorgen zum Beispiel, doch da schlief ich noch.
Freitagnacht hatten wir auf dem Balkon Backgammon gespielt, nach Spezialregeln, die besagen, dass nicht mehr als fünf Steine auf einem Feld stehen dürfen. Weil so mehr Plätze besetzt sind, sieht das Spielfeld irgendwie ausgeglichener aus. Ich verlor ein paar Mal, dann war es spät. Dann war es Samstag.
Nicht nur Bob Dylan und Rainald Goetz hatten Geburtstag, sondern auch K. In den 90er Jahren hatten wir nicht weit voneinander gewohnt und uns jede Woche getroffen zum Rauchen, Trinken und Reden. Manchmal hatten wir auch am Laptop gestanden und mitgesungen und immer so gerne Westbam gehört und einmal auch versucht, zusammen alberne pornografische Geschichten zu schreiben, die rückblickend aber doch nicht so toll gewesen waren.
Dann zog sie weg; es gab einen Mann, zwei Kinder und nun den 50. Geburtstag. Die Geburtstagsgesellschaft war gut gemischt, die Wohnung groß. Wir standen auf dem Balkon und sprachen über David Bowie. Ich hatte E. zuletzt vor sechs Jahren auf einer Lesung im „Matto“ am Chamissoplatz gesehen. Sechs oder sieben Leute waren gekommen. Sie hatte Fotos gemacht und alles war sehr schön gewesen. Und nun sprachen wir über David Bowie. Es machte Spaß, mit einer David-Bowie-Kennerin über Bowie zu sprechen. Sie war gerade nach Berlin gezogen, als der berühmte Rockstar die Stadt verlassen hatte, und hatte es geschafft, auch ohne Einladung, auf die David-Bowie-Ausstellungseröffnung im Gropiusbau zu kommen. Ganz scheußlich sei das aber gewesen. Zum Beispiel die Reden. Oder die Leute.
Ich erzählte von einer großen, überkandidelten Berliner David-Bowie-Geschichte am 21. 9. 95, sein Album „Outside“ war mit viel Pipapo im „David-Bowie-Club“ vorgestellt worden, was auch scheußlich gewesen war. Wir einigten uns darauf, dass Bowie als Popstar für das Anti-Authentizistische steht sozusagen und gleichzeitig mit Kierkegaard für das Leiden am Nicht-selbst-sein-können. Später agitierte mich M., am Sonntag zur Wahl zu gehen und für Tempelhof, also gegen die Bebauung zu stimmen. Ich wunderte mich über sein Engagement. Vor zwanzig Jahren hätte er noch beides, die Bebauung und die Nichtbebauung, „faschistisch“ genannt und ganz besonders über den „faschistischen“ Nichtbebauungswahnsinn geschimpft.
Wir aßen Sachen und tranken das Bier weg, ein älteres Paar erzählte, wie sie 68 oder so, als hier am Mariannenplatz alles abgerissen werden sollte, in das Haus kamen, wo wir feierten; wie sie die Sachen renoviert hatten über Jahrzehnte und wie jetzt schon die Kinder hier wohnen.
Ab und zu spielte das Kreuzberger Nasenflötenorchester, ich freute mich, Thomas Kapielski wiederzusehen; er mahnte mich, mehr zu essen. Oder zu trinken. Ein Amerikaner sah aus wie Foucault, war aber schon 68. Betrunken tanzten wir in den Morgen. Zu Liedern wie „Do You Really Want to Hurt Me“, „50 Ways“ und Bob Dylan. Früher sahen Leute um die 50 anders aus.
Sonntagmittag bin ich noch ziemlich angenehm verkatert, trinke viel Wasser und gucke das Spiel der Ü 32 von Eintracht Südring gegen Normannia. M. kennt den Starspieler der jungen Altherren-Mannschaft vom Kiosk. Viele Jahre hatte ich am Zaun gestanden; nun saß ich zum ersten mal direkt am Spielfeld. Die Stimmung unter den 30 Fans war super. „Dogge“ machte ein gutes Spiel; das Wählen bei der AWO später machte wieder großen Spaß; das Tempelhofer Feld sah sehr gut aus gegen Abend, wenn man die Augen zumachte, war es fast wie am Meer. In einem schönen Interview mit der Siegessäule berichtete Romy Haag, dass die Delphin-Passage in „Heroes“ von ihr stammt.