FAST ALLEIN UNTER MÄNNERN : Besänftigende Kraft
Zwei Superlative, die Champions League und die größte Leinwand Neuköllns, lockten mich an diesem Abend in ein Wettbüro. Auf 16 einzelnen Flatscreens, zu einer riesen TV-Wand zusammengefasst, konnte ich mir Müllers durchgeformte Waden und Ribérys asymmetrischen Haaransatz in High-Definition anschauen. In Gemeinschaft mit einer etwa 50-köpfigen Männerschar widmete ich mich als einzige Frau diesen Detailbetrachtungen. Fast, schließlich versorgte eine vom vielen Rauchen zermarterte weibliche Person die Herrenrunde mit allerlei Getränken. In einem Raum, so dunkel, so verraucht, so immun gegen das, was sich draußen abspielt, in dem Jack Daniel’s trinkende Männer mit Ungeduld ihre Wettzettel zerreißen und hektisch neue Einsätze auf einen bereitliegenden Papierstapel kritzeln, strahlt diese Dame eine unentbehrliche, besänftigende Kraft aus. Sie ist diejenige, die distanziert und höflich dem Spieler die Scheine wechselt, das beruhigende Getränk serviert und ihn auch nach zwölfstündiger Schicht freundlich verabschiedet. Sie fragt nicht, sagt nichts, ist nur. Eine ganze Zunft von Frauen zieht in der Welt des Wettens und Spielens aus ihrer reinen, weiblichen Gegenwart ihre ökonomische Existenz. Selbst, wenn in Neukölln Lehrer und Künstler, New Yorker und Londoner die Straßen bevölkern, diese Tresendamen und ihre Etablissements haben Bestand. Während sich Müller und Ribéry weiter an den Madrilenen abrackerten, entwickelte sich zwischen der wasserstoffblonden Frau und mir eine zarte Sympathie, ein nettes Zulächeln, ein dezentes Zuprosten. Mein Besuch war nicht selbstverständlich, auch diese Feststellung war Teil unserer unausgesprochenen Zuneigung. Sie ließ mich hineinblicken in ihre tägliche Arbeitswelt, ausnahmsweise. An einem anderem Abend hätte sie mich schnell mit ihren lackierten Fingernägeln zur Tür verwiesen.
SOPHIE JUNG