: Explosive Mischung
■ Der Ausgang des Eisenbahnerstreiks entscheidet über das Schicksal der Reformen in Polen
Es ist soweit. Zum ersten Mal sitzen in Warschau Solidarnosc -Mitglieder einander gegenüber und verhandeln über Streikpostulate. Die einen als Gewerkschafter, die anderen als Arbeitgeber. An sich war es vorauszusehen, daß sich die allumfassende Demokratiebewegung von einst einmal in notwendige Interessengegensätze aufteilen würde: In Warschau die Regierung, in Danzig die Gewerkschaft, im Sejm die verschiedenen Parteien. Eine logische Entwicklung, Streiks gibt es überall, und daß eine Gewerkschaft eine Regierung kritisiert, ist anderswo eine Alltäglichkeit. Doch die jetzigen Streiks in Polen deuten an, daß weder die Regierung, noch die Gewerkschaften die Lage wirklich unter Kontrolle haben. Das ist kein Zufall: Mehrere Millionen Arbeitnehmer in Polen sind in keiner Gewerkschaft organisiert, mehrere Millionen Polen - 40 Prozent der Wahlberechtigten - haben sich an den Wahlen von 1989 nicht beteiligt und werden sich, allen Umfragen nach, auch an den am Sonntag stattfindenden Kommunalwahlen nicht beteiligen.
Eine riesige graue Menschenmasse, die niemand vertritt, für die niemand spricht, die Polens Reformen und Polens neuer Demokratie den Rücken kehrt. Das ist der Hauptgrund, warum der jetzige Lohnkonflikt mehr ist, als nur eine Neuordnung der politischen Landschaft. Denn durch die Gleichgültigkeit gegenüber dem Systemwandel in Polen, der im Verhalten der streikenden Eisenbahner zum Ausdruck kommt, lassen sich die an sich wirtschaftlich bedingten Proteste ganz leicht in eine Bewegung gegen Polens neue Regierung umleiten.
Den Anfang dazu haben OPZZ-Chef Miodowicz und Walesa-Gegner Jurczyk schon gemacht. Eine seltsame Koalition: Ein Ex-PVAP -Politbüromitglied und einer von Polens fanatischsten Antikommunisten ziehen am gleichen Strang. Abzusehen war das schon seit langem und im Grunde ist das auch eine logische Entwicklung. Nur ist das vor dem Hintergrund jener gleichgültigen und apolitischen Millionen und unter den gegebenen Umständen eine für Polen äußerst explosive Mischung. Und deshalb ist dieser Streik kein gewöhnlicher: Sein Ausgang entscheidet über das Schicksal von Polens Reformen.
Klaus Bachmann, Warschau
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen