piwik no script img

Explosionskraft der Einzelexistenz

Franz Jungs „Der verlorene Sohn“ in Ulm uraufgeführt  ■ Von Peter Laudenbach

Seit Beginn der letzten Spielzeit ereignet sich in Ulm ein kleines Theaterwunder: Der neue Intendant Bernd Wilms führt vor, welche Möglichkeiten in der gern totgesagten Institution Stadttheater schlummern. Drei Jahrzehnte nachdem von Ulm aus Kurt Hübner, Peter Zadek und Wilfried Minks das deutsche Theater revolutionierten, unternimmt das Ulmer Ensemble den Versuch, die aufgemotzte Beliebigkeit und müde Routine des Gegenwartstheaters zu durchbrechen. Während man sich allerorten mit Operetten und „Linie1“ ans Publikum ranschmeißt, setzt der Ulmer Spielplan auf Stücke, die den Zuschauern einiges abverlangen: Koltes und J.M.R. Lenz, György Ligeti und Peter Weiss. Das Konzept scheint, trotz 2.000 Kündigungen im Abonnement und empörter Zuschauerzuschriften, aufzugehen: Mittlerweile füllt eine Oper der klassischen Moderne, Prokofjews „Liebe zu den drei Orangen“, die 800 Plätze des großen Hauses, und ein Monolog, den der Dramaturg Oliver Reese aus Briefen des Kindermörders Jürgen Bartsch montiert hat, sorgt für ein ausverkauftes Kleines Haus.

Die jüngste Ulmer Inszenierung wagt die Uraufführung eines vor 65 Jahren geschriebenen Stückes: „Der verlorene Sohn“ von Franz Jung. Obwohl Jung 15 Dramen geschrieben hat, fällt es schwer, ihn als Dramatiker zu bezeichnen. Die Literatur war nur eines der Felder, auf denen er sich mit einiger Radikalität bewegte. Jung, 1888 geboren, desertiert im Ersten Weltkrieg und beteiligt sich 1918 an den Berliner Revolutionskämpfen. In den folgenden Jahren schreckt er als militanter Revolutionär auch vor Attentaten und einer Schiffsentführung nicht zurück. Spätestens 1924 sind die revolutionären Hoffnungen aufgebraucht, übrig bleibt illusionslose Bitterkeit. Was folgt, nennt Jung in seiner Autobiographie die „Grauen Jahre“: Scheitern der Versuche, wieder an frühe literarische Erfolge anzuknüpfen, eine „Schattenexistenz am Rande“ zwischen Börsenjournalismus und Boheme: „Jeder Aktionsmöglichkeit, mich aus dem Schlamm und der Apathie herauszuziehen, beraubt.“ An diesem Zustand ändert sich bis zu seinem Tod 1963 wenig.

Jungs literarisches Werk hat immer etwas von einem wütend geführten Selbstgespräch. Auf seine Leser nimmt er wenig Rücksicht. Auch die Theaterstücke wirken seltsam unfertig, keine sauber durchkonstruierten Spielvorlagen, sondern „Skizzen, nicht mehr als erste Rohentwürfe“ (Jung). Seine Agitprop-Stücke werden in der Nachkriegszeit von Piscator aufgeführt, gegen Ende der zwanziger Jahre kommt es noch zu zwei erfolglosen Uraufführungen, danach verschwinden Jungs Dramen von den Bühnen. Erst seit wenigen Jahren gibt es wieder gelegentliche Versuche, ihre szenischen Möglichkeiten auszuloten: 1984 inszenierte Klaus Michal Grüber am Piccolo Teatro (Mailand) „Heimweh“, was ein Kritiker kopfschüttelnd „den seltsamsten Abend der Saison“ nennt.

Das gleiche Stück zeigt 1989 Ernst Stötzner an der Berliner Schaubühne als gespenstische Deliriumsphantasie voller irrlichternd-schräger Gestalten. Auch die atmosphärisch dichte, Jungs Sprödheit respektierende Inszenierung stößt auf Unverständnis: Nach nur 17 schlecht besuchten Aufführungen wird sie vom Spielplan genommen.

„Der verlorene Sohn“ entstand wie „Heimweh“ 1927. Der Plot klingt zunächst nach einer übersichtlichen Hochstaplergeschichte: Neun Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges hofft die amerikanische Familie Thompson noch immer, daß ihr als vermißt geltender Sohn nicht gefallen ist. Nach einer Schießerei wird ein Gangster verhaftet, durch einen anonymen Brief erfahren die Thompsons, daß der Verhaftete, der sein Gedächtnis verloren habe, ihr ersehnter Sohn sei. Trotz einiger Zweifel glauben sie, den „verlorenen Sohn“ wiedergefunden zu haben, bis am Ende der Schwindel auffliegt. Zeittypisch sind zwei Elemente: das Hochstaplermotiv, der Kriegsheimkehrer und, damit verbunden, die durch den Krieg aus den Angeln gehobene bürgerliche Ordnung. Jung lädt den wenig originellen Zeitstoff nicht nur durch den biblischen Titel gewaltig auf. Die Bürger zeigt er als übernervöse, paranoide Figuren, immer kurz davor, die Nerven zu verlieren. Auf der Gegenseite wird der Desperado vom kaltblütigen Kriminellen zum Jüngling, der sich nach „Heimat“ und der „Mutter“ sehnt: ein Hochstapler, der es nicht auf Reichtum, sondern auf Nestwärme abgesehen hat. Heimliches Zentrum des Stückes sind die gegenseitigen Projektionen: Die „Mutter“ und die „Schwester“ sehen im verhafteten Gangster ihre eigenen Ausbruchsphantasien verkörpert, und der Outlaw erhofft sich von der Familie ein biedermeierliches Glück, von dem diese nette kleine Hölle weit entfernt ist. In der Verzweiflung verschmelzen die Grenzen zwischen Desperado und abgewirtschaftetem Bürger: Beide „werden früher oder später von der gleichen inneren Panik erfaßt, die am Boden der menschlichen Existenz ruht, und für die es keine Lösung gibt“ (Jung).

Unverkennbar benutzt Jung den Stoff, um in ihm seine eigenen biographischen Brüche zu spiegeln: In der zusammenbrechenden Familie den Bankrott der bürgerlichen Ordnung zu erkennen, fällt nicht schwer, und auch die Parallelen zwischen dem Desperado, der sich nach Geborgenheit sehnt und Jungs Situation sind nicht zu übersehen: Die illusionslose Verzweiflung nach dem gescheiterten Aufbruch teilt Jung noch mit jeder Protestgeneration der letzten Jahrzehnte, von den 68ern bis zu den Hausbesetzern.

Jung versucht, den politischen Bankrott mit den privaten Katastrophen seiner Figuren sichtbar zu machen, nicht, indem er sie zu plumpen Ideologie-Verkörperungen und Thesenrittern macht, sondern indem er ihre mentalen Verwüstungen als Echo gesellschaftlicher Lähmung begreift.

K.D. Schmidts Inszenierung arbeitet den realistischen Kern des Stückes heraus, ohne ihm seine verwirrenden Doppelbödigkeiten zu nehmen. Historisierung, Trauer und die Distanz des Kunstvorgangs prägen die ersten Momente der Aufführung. Sie beginnt mit einem kurzen Vorspiel: In der Tiefe der Bühne sieht man die Projektion von sepiabraunen Fotos aus dem Ersten Weltkrieg, begleitet von einer Klangcollage aus Marschmusik, Motorenlärm und einem Streichquartett. Der Gegensatz von genauer, realistischer Figurenzeichnung und der auf große, prägnante Zeichen setzenden Bühne mit ihren meterhohen, halbrunden Käfigen, das Nebeneinander von deutlich vorgeführten Situationen und zwischen die Szenen montierten stummen, symbolisch aufgeladenen und musikalisch dominierten Zwischenspielen bestimmen die Inszenierung. Wolfgang Floreys an Schostakowitsch und Schönberg erinnernde Bühnenmusik für Streichquartett plätschert nicht als diffuser Klangbrei im Hintergrund, sondern durchbricht, wie Hansjörg Hartungs Bühnenraum, den Realismus des Spiels.

K.D. Schmidt zeigt die Familie Thompson samt dem Schwiegersohn als überreizte, bis zur Hysterie nervöse Gestalten. Ihre Gefühle kippen abrupt und heftig um, Mißtrauen und latente Panik bestimmen die Atmospähre. Der „verlorene Sohn“ bricht nicht in ein Idyll ein, sondern „wird in die emotionelle Welle (der Familie) mit hineingezogen, die für ihn zur Falle wird, die Rückkehr ins Gefängnis, wenn auch in anderer Form“ (Jung). Die Inszenierung verschärft das, indem sie den Vater den anonymen Brief schreiben läßt: Die Bürger werden nicht Opfer eines Betrugs, sondern klammern sich an den angeschossenen Verbrecher wie an einen rettenden Strohhalm. Seine Angeberei mit dem Abenteurerleben läßt die Tochter des Hauses dahinschmelzen. Anna Steffens spielt diese Tochter als exaltierte, ziemlich zickige und frustrierte Dame, deren Faszination für den abgerissenen „Bruder“ unverkennbar erotisch ist. Während sie ihn daran erinnert, „wie du bei uns untergekrochen bist“, spreizt sie ihre entblößten Schenkel und gibt so dem „Unterkriechen“ im Schoß der Familie einen recht eindeutigen Sinn.

Allerdings ist der „verlorene Sohn“ (Harald Schrott) alles andere als ein eleganter Lustmolch. Wo die übrigen Figuren nervös und gereizt sind, ist er verzweifelt aggressiv. Schrott entwickelt sein Spiel ganz aus dem Körper heraus, noch sein Sprechen wirkt wie ein körperlicher Vorgang. Er stößt die Sätze heraus, als wären es Schläge oder Hilfeschreie. Sein Spiel führt vor, was Jung als das eigentliche Thema seiner Theaterstücke interessiert hat: „die Explosionskraft der Einzelexistenz“. Sein Gegenpol ist der Schwiegersohn, Rechtsanwalt Hardy. Thorsten Krohn zeigt ihn als Bubi, der seine „Panik“ (Jung) nur mühsam hinter einer aufgesetzten, brüchigen Souveränität verstecken kann. Zuerst ist es nur ein etwas gereizter Tonfall, zu schnelle Gesten, unruhiges Auf-der-Stelle-Treten oder große staksige Schritte, mit denen Krohn die schlecht getarnte Panik vorführt, aber spätestens wenn er die Insignien seiner Anwaltswürde, Hut und Aktenmappe, auf den Boden wirft und nochmal wütend drauftritt, ist nicht mehr zu übersehen, daß auch hinter diesem Bürger ein Amokläufer lauert; er weiß es nur noch nicht, wie wenig ihn vom kriminellen „Sohn“ trennt.

Die überhitzten Figuren bewegen sich in einem äußerst kalten Raum. Die aggressive Hoffnungslosigkeit von Jungs Figuren wird zur genauen Beschreibung gegenwärtiger Mentalität.

Franz Jung: „Der verlorene Sohn“. Regie: K.D. Schmidt. Mit Thorsten Krohn, Wieslawa Wesolowska, Anna Steffens, Harald Schrott, u.a. Stadttheater Ulm, weitere Aufführungen: 27.November, 2., 10., 19. und 27.Dezember.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen