Expertin über das deutsche Bildungssystem: "Die Schulen passen nicht mehr"
Früher mussten sich die Schüler den Schulen anpassen. Heike Solga vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin fordert, dass es endlich andersherum geht.
Taz: Frau Solga, der Bildungsbericht der Kultusminister attestiert Hauptschülern erneut schlechte Chancen auf eine Ausbildung - wer passt nicht zu wem: die Hauptschüler zur Ausbildung oder das duale Ausbildungssystem zur Hauptschule?
Heike Solga: Beides. Wir wissen seit der ersten Pisa-Studie, dass die Hauptschulen als Bildungsinstitutionen nicht mehr funktionieren. Insofern sind es weniger die Jugendlichen, die nicht passen, sondern die Schulen, die nicht mehr zu den Jugendlichen passen. Das mehrgliedrige Schulsystem wurde immer damit begründet, dass wir für sehr unterschiedliche Segmente in der Wirtschaft ausbilden. Diese Segmente gibt es so nicht mehr, die Wirtschaft will die Hauptschüler nicht. Die erste Forderung nach Abschaffung der Hauptschule kam ja auch aus der Wirtschaft. Aber auch die Ausbildung muss sich verändern - weil das Ausbildungssystem nicht mehr funktioniert.
Wie müsste sich die duale Ausbildung verändern, um wieder funktionsfähig zu werden?
Das ist ein ganz heißes Eisen, weil es den deutschen Korperatismus berührt. Bei der dualen Ausbildung reden die Länder mit, die für Schulen und Berufsschulen verantwortlich sind, der Bund über Wirtschafts- und Bildungsministerium, die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften. Deshalb ist es auch so schwer, etwas zu verändern. Notwendig ist, dass wir unser System nach der Schule durchlässiger denken und zu neuen Verflechtungen zwischen Berufsschule, betrieblicher Ausbildung und Hochschule kommen.
Wie könnten diese Verflechtungen aussehen?
Man sollte etwa die duale Ausbildung an Berufsschulen stärker mit Studiengängen an Fachhochschulen verknüpfen, indem Fächer angerechnet werden.
Berufsschüler sollen problemlos an Fachhochschulen wechseln?
Genau. Wir verstopfen die Ausbildungskanäle auch dadurch, dass wir gute Leute nicht rauslassen und Sackgassen produzieren. Gute Realschüler müssen erst eine Ausbildung machen, um dann eine Hochschule besuchen zu können. Also sollten wir schnellere Übergänge von der Berufsausbildung zur Hochschule schaffen. Es gibt schon erste duale Studiengänge zusammen mit Unternehmen. Aber dafür braucht man bisher eine Fachhochschulreife oder eine abgeschlossene Berufsausbildung.
Diese Abkürzungen sind für jene interessant, die im Ausbildungssystem drin sind. Was kann man für jene tun, die gar nicht erst reinkommen.
Für Hauptschüler wäre es sinnvoller, sie nicht mehr in Übergangsschleifen zu stecken. Warum schicken wir sie nicht gleich ins erste Lehrjahr an eine Berufsschule. Dort könnten sie zwei Berufsgrundbildungsjahre absolvieren und bräuchten am Ende nur noch ein praktisches Jahr in einem Betrieb. Es muss ja nicht ein einziges Modell für die duale Ausbildung geben, sondern mehrere, die je nach Marktbedingungen variierbar sind.
Aber ist es nicht frustrierend für Schüler, die in der Hauptschule schon nicht besonders motiviert waren, wenn sie nach dem Abschluss die nächste Schulbank drücken, statt an der Werkbank zu stehen?
Aber noch demotivierender ist es für die Jugendlichen, wenn sie in ein Berufsvorbereitungsjahr gesteckt werden, denn damit wird ihnen vermittelt: Ihr seid noch gar nicht ausbildungsreif! Wenn wir ihnen aber sagen, geht sofort ins Berufsgrundbildungsjahr und egal, ob ihr das in einem oder in drei Jahren schafft, ihr fangt zumindest schon einmal mit einer Ausbildung an, dann kann man sie stärker motivieren.
Es gibt unzählige Maßnahmen für Schulabgänger ohne Ausbildungsplatz. Es mangelt also nicht an politischer Aufmerksamkeit. Woran liegt es, dass diese so wenig effektiv sind?
Das sind alles Maßnahmen, die parallel zur regulären Ausbildung laufen. Ein berufsvorbereitendes Jahr wird beispielsweise nicht auf die Lehre angerechnet. All diese Maßnahmen sind nicht verzahnt und keine Bausteine, von denen man sagen kann, die Jugendlichen sind auf dem richtigen Weg in den Arbeitsmarkt. Und es krankt natürlich daran, dass man an der Hauptschule an sich nichts verändert. Deshalb müssen wir generell darüber nachdenken, wie das Bildungssystem umstrukturiert werden kann.
Wo liegt die Sollbruchstelle im deutschen Bildungssystem?
Das ist der Übergang von der Grundstufe in die Sekundarstufe. Im deutschen Schulsystem herrscht vor allem Abwärtsmobilität, Realschüler werden auf die Hauptschule verwiesen, umgekehrt ist das viel seltener der Fall. Die geringe Quote an Aufsteigern ist systematisch, zum Beispiel durch die unterschiedlichen Lehrpläne der Schultypen. Ein paar Jugendliche schaffen es zwar, über den zweiten Bildungsweg aufzusteigen, aber das ist gerade für Jugendliche aus bildungsfernen Familien ein viel schwierigerer Weg, als es eigentlich notwendig wäre. Wir denken zu sehr in Boxen und stecken die Schüler in Leistungsgruppen. Stattdessen müssten wir viel stärker an eine Maximierung des Leistungsvermögens jedes Einzelnen denken und davon ausgehen, dass jedes Kind bildungsfähig ist.
Neuerungen wie der flexible Schulanfang oder die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre sind noch gar nicht in die Ergebnisse des Bildungsberichts eingeflossen. Ist Deutschland mit diesen Reformen auf dem richtigen Weg?
Gerade die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre sehe ich sehr kritisch. Hier kürzen wir wieder Bildungszeit und setzen Jugendliche aus bildungsfernen Familien unter enormen Druck, das Abitur in acht Jahren zu schaffen. Akademikereltern können das am Nachmittag ausgleichen. Die Flexibilität am Schulanfang sollte auch auf den Abschluss übertragen werden.
Kritisiert wurde aber bisher immer, dass die deutschen Jugendlichen zu alt aus der Schule kommen und zu spät in den Beruf einsteigen.
Ich verstehe den Jugendwahn nicht. Wir merken, das Unternehmen auch gern ältere Jugendliche als Auszubildende nehmen, also keine 16-Jährigen. Das hängt mit dann möglichen Arbeitszeiten und mit der persönlichen Reife der Personen zusammen. Unser System ist widersprüchlich: Einerseits verkürzen wir die Schulzeit, weil die Leute früher in den Arbeitsmarkt kommen sollen, und andererseits stecken wir Jugendliche in Warteschleifen, die ihnen wenig helfen und nicht auf die Ausbildung angerechnet werden.
Was müsste geschehen, um die Widersprüche zu beseitigen?
Das Problem sind die unterschiedlichen Zuständigkeiten: Wir bräuchten einen großen Bildungsgipfel, an dem der Bund, die Länder und die Sozialpartner teilnehmen und sich darüber verständigen, was für eine Bildung sie eigentlich wollen. Ansonsten doktern wir an jedem System ein bisschen rum, aber in den Übergängen bleibt es widersprüchlich. Austragen müssen diese Widersprüche die Jugendlichen.
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