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Ex-Staatssekretär Wicke"Wir brauchen Kioto plus"

Mit Kioto ist die Klimakatastrophe nicht zu stoppen, meint Ex-Staatssekretär Wicke. Nur ein Welthandel mit Emissionsrechten schaffe Anreize für Entwicklungsländer.

"Ich nehme an, dass Deutschland 2015 noch 800 Millionen Tonnen CO2 ausstößt": RWE-Braunkohlekraftwerk Niederaussem Bild: dpa

taz: Herr Wicke, wenn Sie bei der Weltklimakonferenz Anfang Dezember auf Bali reden dürften, was würden Sie sagen?

Lutz Wicke: Dass das Kioto-Protokoll dringend umgebaut werden muss, weil es bis jetzt katastrophal versagt hat. Bis 2012 werden die CO2-Emissionen um 40 Prozent steigen. Nicht einmal die EU-Staaten werden ihre Ziele einhalten. Wir brauchen ein ganz neues System, um die Klimakatastrophe aufzuhalten.

Bild: privat

LUTZ WICKE war Umweltstaatssekretär in Berlin und Wissenschaftlicher Direktor am Umweltbundesamt. Er ist heute Direktor des Instituts für Umweltmanagement (Ifum) an der Europäischen Wirtschaftshochschule Berlin. Zusammen mit Peter Spiegel und Inga Wikke-Thüs schrieb er die kürzlich erschienene Studie "Kyoto Plus - So gelingt die Klimawende!", C. H. Beck Verlag, München 2006, 252 Seiten, 19,90 Euro.

Was schlagen Sie vor?

Kioto plus - also keinen Umsturz, aber eine Weiterentwicklung des bisherigen Systems. Wenn wir die Erderwärmung auf zwei Grad begrenzen wollen, müssen die weltweiten Treibhausgasemissionen schon bald ihren Höhepunkt erreichen und dann ganz schnell sinken. Mein Vorschlag ist: ein Maximum von 30 Milliarden Tonnen CO2 im Jahr 2015 - und dann schrittweise immer weniger.

Wie wollen Sie die 30 Milliarden Tonnen verteilen?

Pro Kopf der Bevölkerung. Bei rund sechs Milliarden Weltbewohnern bekäme jeder Mensch fünf Tonnen CO2. Diese Gleichverteilung der Rechte hat ja auch Frau Merkel inzwischen als einzig gerechtes Prinzip anerkannt. Und diese Emissionsrechte würden dann in meinem Modell global gehandelt werden.

Ein Deutscher stößt derzeit zehn Tonnen CO2 pro Jahr aus, ein Inder ungefähr eine. Nach Ihrem Vorschlag würde viel Geld von Deutschland nach Indien fließen.

Das stimmt. Ich nehme an, dass Deutschland 2015 noch 800 Millionen Tonnen CO2 ausstößt. Es bekäme mit 80 Millionen Einwohnern nur 400 Millionen Zertifikate zugeteilt. Die fehlenden 400 Millionen Zertifikate müssten wir zukaufen, zum Beispiel von Indien. Mein System sieht aber auch vor, den CO2-Preis im Handel zwischen den Staaten zu begrenzen, zum Beispiel auf zwei Dollar pro Tonne. Sonst werden die Industrieländer kaum zustimmen.

Trotzdem werden die Entwicklungsländer viel verdienen. Was soll mit dem Geld geschehen?

Das Geld darf nicht verprasst werden, sondern es muss für ökosoziale Marshallpläne verwendet werden, zur klimafreundlichen Entwicklung und zur Bekämpfung der Armut.

Was würde Ihr Modell für deutsche Verbraucher heißen?

Der Staat würde sämtliche Emissionsrechte versteigern oder verkaufen. Eine Tonne CO2 würde bis zu 30 Dollar kosten. Damit würden Kohle, Gas und Öl deutlich teurer werden. Benzin zum Beispiel zunächst um 25 Cent. Im Gegenzug könnte der Staat die Einnahmen aus der Emissionsversteigerung an die Bürger zurückgeben, etwa durch eine niedrigere Mehrwertsteuer. Es geht ja nicht darum, die Menschen zu belasten, sondern Anreize zum Energiesparen zu setzen.

Sie wollen die Umwelt mit einem globalen Marktplatz retten. Ist Ihr Modell der endgültige Sieg des Marktprinzips?

Früher fanden rote und grüne Umweltschützer nur Abgaben gut, der Emissionshandel war des Teufels. Das war doch der Ausverkauf der Umwelt. Inzwischen haben alle begriffen, dass es ohne Markt nicht geht. Der weltweite Siegeszug der erneuerbaren Energien läuft über den Markt.

Aber der Markt hat Grenzen. Warum sollte mein Vermieter meine Wohnung dämmen, nur weil ich mehr für Gas bezahle?

Richtig, der Markt schafft nicht alles. Sonst hätten wir ja schon längst viel bessere Wärmedämmung oder Kühlschränke. Darum brauchen wir zusätzlich noch Vorschriften. Zum Beispiel das Modell der "Frontrunner". Nur die besten und effizientesten Geräte dürften dann noch verkauft werden, der Standard würde alle paar Jahre nach oben angepasst.

Die große Schwäche des Kioto-Systems ist, dass es die Staaten nicht zu klimafreundlichem Verhalten zwingt. Ist das bei Ihrem System anders?

Der globale Emissionshandel schafft Anreize. Entwicklungsländer, die weniger CO2 ausstoßen als sie pro Kopf gerechnet dürfen, haben einen konkreten Anreiz, sich klimafreundlich zu verhalten - nämlich Geld. Jede Tonne, die sie nicht selbst ausstoßen, können sie verkaufen.

Es hat Jahre gedauert, bis genügend Staaten das Kioto-Protokoll unterschrieben haben. Ein Nachfolgeabkommen dürfte es noch schwerer haben. Warum halten Sie gerade Ihr Modell für umsetzbar?

Wenn überhaupt ein wirksames System kommt, dann meins oder ein ähnliches. Die USA werden sich nicht auf eine nationale CO2-Begrenzung einlassen - aber vielleicht auf eine weltweite Begrenzung. Dann können sie erst mal mit dem energieintensiven Lebensstil weitermachen, es würde nur teurer werden. Aber entscheidend sind nicht die USA, sondern die Entwicklungsländer. Ein neues Klimaabkommen kommt nur, wenn neben den Europäern auch die Entwicklungsländer mitmachen. Und die gewinnen wir, wenn wir die Emissionsrechte pro Kopf gleichverteilen.

INTERVIEW: NIKOLAI FICHTNER

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