Ex-Ostblock-Romane: Spukgeschichten vom Kommunismus
In drei neuen Romanen verwandeln Drago Jancar, Ismail Kadare und Giwi Margwelaschwili den ehemaligen Ostblock in eine mythologische Landschaft
Eine Studie der FU Berlin sorgt für Aufregung. Laut ihren Ende vergangenen Jahres veröffentlichten Ergebnissen erklärten 600 von 750 befragten Schülern der 10. und 11. Klassen in Berlin und Brandenburg, wenig oder nichts über die DDR zu wissen. Von der Mauer haben sie noch nie gehört. Mehr als zehn Prozent glaubten, Helmut Kohl habe vor 1989 die DDR regiert. Und was die Demokratie von der Diktatur unterscheidet, tja, wer weiß. Man kann daraus den Schluss ziehen, dass das Bildungssystem verbesserbar wäre. Aber man sollte sich über das Ausmaß der Ahnungslosigkeit auch nicht wundern. Schließlich wurde nach der Wende alles dafür getan, die Spuren des Kommunismus auf deutschem Boden zu tilgen. Keine Mauerreste, kein Palast der Republik, kein Lenindenkmal, keine Straßennamen sollten daran erinnern. Die DDR ist in eine graue Vorzeit entrückt, irgendwo in den Geschichtsbüchern.
Das ist die Stunde der Literatur oder vielmehr der Legendenbildung. Der Kommunismus verwandelt sich in eine mythologische Landschaft, die von seltsamen Gestalten bevölkert wird. Normalerweise dauert es 200, vielleicht sogar 300 Jahre wie bei Jesus oder dem Trojanischen Krieg, bis Geschichten die nötige Ausdörrung und Schrumpfung zur Legende erreicht haben. Beim Kommunismus geht es schneller. Das hat damit zu tun, dass die Menschen, die in den sozialistischen Ländern lebten, schon ein mythologisches Verhältnis zu ihren Herrschern und ihrem Staat unterhielten. Die Wirklichkeit war so brüchig, dass sie als "real existierend" extra bekräftigt werden musste.
Der slowenische Schriftsteller Drago Jancar schildert im Vorwort zu seinem Roman "Der Wandler der Welt", wie er als Kind in den 50er-Jahren begeistert griechische Sagen las. Auch Tito in seiner weißen Uniform erschien ihm als sagenhafte Figur. Mehr noch: "Wie bei den alten Griechen verflocht sich der Mythos von der Revolution unaufhörlich mit der Wirklichkeit." Erst allmählich lernte er, die schönen Heldengeschichten als "bloßen Aufputz der Tyrannei" zu durchschauen: "Wo Halbgötter und Götter auf die Erde niedersteigen, gibt es neben Begeisterung immer auch Angst, Brennnesselsuppe und ein Messer in der Brust." Man wird es bald nicht mehr glauben, sagt Jancar, "aber die Menschen haben mitten im 20. Jahrhundert in einer mythologischen Zeit gelebt".
Der Mythos ist also die adäquate Form, um von dieser Vergangenheit zu berichten. Jancars "Wandler der Welt" aktualisiert den Mythos von Dädalus, der einst den Palast von Knossos und das Labyrinth des Minotaurus baute. In seiner Version geht es um den Architekten und Bildhauer Pavel Areh, der als Kommunist im Vorkriegsjugoslawien im Gefängnis saß. In den frühen Tito-Jahren soll er seine Häftlingserfahrungen dazu nutzen, im Auftrag der neuen Machthaber ein noch perfekteres Gefängnis zu bauen. Doch dann fällt er in Ungnade und wird zum Gefangenen in dem von ihm selbst errichteten Bau. Die Geschichte hat sich tatsächlich so oder so ähnlich zugetragen. Es gab diesen Mann, allerdings hatte er einen anderen Namen. Zugleich behandelt Jancar damit ein Kapitel seiner eigenen Biografie. 1974 wurde er wegen "feindlicher Propaganda" angeklagt. Er kam für kurze Zeit in das Gefängnis in Maribor, in dem schon sein Vater als Gefangener der Nazis gesessen hatte. 1974 war Jancar ein junger Autor, der gerade sein erstes Buch veröffentlicht hatte. Heute gehört er zu den wichtigsten Schriftstellern seines Landes, der auch als politische Figur von Bedeutung ist - schon deshalb, weil er sich hartnäckig mit der titoistischen Vergangenheit Sloweniens auseinandersetzt.
Um zur Legende zu werden, brauchen Geschichten eine Parabelhaftigkeit, die über den konkreten historischen Augenblick hinausweist. "Wir spürten, dass sich die ganze Welt nicht nur, wie das Sprichwort sagt, in einem Wassertropfen widerspiegeln konnte, sondern auch in der Schilderung eines einzelnen Ereignisses", heißt es in Ismail Kadares Roman "Spiritus". Der große albanische Erzähler führt darin bis ins Detail vor, wie aus albtraumhaften Erlebnissen der Mythos als Schrumpfform entsteht. Er gibt den Menschen überhaupt erst die Möglichkeit, das Geschehene so zu erzählen, dass sie es ertragen können. Im Mythos ist es da und ist doch fern - als betreffe es gar nicht mehr sie selbst.
Geht es bei Jancar um den Kerker, um Unfreiheit und Unterdrückung als Siglen der Diktatur, so ist Kadares Thema die Überwachung und die Angst. Zu Beginn trifft ein westliches Expertenteam irgendwann in den 90er-Jahren in einer albanischen Kleinstadt ein, um die Vergangenheit zu erforschen. Doch was sie zutage fördern, sind nur Geheimdienstfragmente: Dossiers, Gesprächsprotokolle und Tonbänder mit rätselhaftem Lallen oder Lustgestöhn. Um eine fertig abgelagerte Geschichte zu finden, ist es noch zu früh. Und da sie von außen kommen, fehlt ihnen das tiefere Verständnis. Dabei sind sie einer ungeheuerlichen Sache auf die Spur: der angeblichen Verschwörung eines spiritistischen Clubs, der Verhaftung eines Gespenstes durch den Geheimdienst und einer Stimme aus dem Grab. Das alles soll sich in einem atheistischen Staat ereignet haben, in dem Religion per Dekret verboten war.
Kadares bedrückende Geschichte ist zu enträtseln, wenn man erfährt, dass damals eine neuartige Wanzentechnologie zum Einsatz kam. Winzige, "Prinzessinnen" genannte Abhörgeräte wurden in der Kleidung der zu Observierenden befestigt, um sie bei jeder Gelegenheit belauschen zu können. Einer von ihnen wurde von einer Planierraupe überfahren und, weil die Leiche kein schöner Anblick war, in den Kleidern begraben. Die Wanze hat nicht nur seine letzte Liebesnacht getreulich aufgezeichnet, sondern auch seinen Todesschrei. Sie bewahrt das Poltern der Erde auf den Sarg und schließlich das, was man Grabesstille nennt.
Kadare treibt ein raffiniertes Spiel mit dem Motiv des Lauschens und des Verstummens, des Vergrabens und Hervorbrechens. Während Tote zu sprechen scheinen, schweigen die Lebenden, aus Angst vor der allgegenwärtigen Macht. Der Orpheus-Mythos klingt an. Selbst "der Diktator" wirkt wie ein Abgesandter aus dem Totenreich. Auch wenn kein Name genannt wird, ist in ihm unschwer der verrückte Enver Hoxha zu erkennen. Er hockt mit seinem einzigen Freund, einem Psychiater, in seinem Palast und betrachtet Röntgenbilder der Politbüromitglieder, um sich an deren Krebsgeschwüren zu erfreuen.
Der Diktator ist eine surreale Figur. Aber was heißt das schon? War der "wirkliche" Enver Hoxha, der in seiner Paranoia 600.000 Bunker bauen ließ, etwa "real"? Seine Macht bestand ja gerade darin, wie unwahrscheinlich seine Existenz war, wie völlig neben jeder Realität er sich befand. Nicht weniger surreal ist das Ende des Romans, wenn Kadare die eingedampften Reste der Geistergeschichte als Imagefaktor in Tourismuskatalogen der Nachwendezeit auftauchen lässt: "Die einzige Möglichkeit für eine Stadt auf dem Balkan, mit den grauen Barockstädten Mitteleuropas gleichzuziehen, ist die Ersetzung der fehlenden Türme und Kathedralen durch archaische Verbrechen und Ängste."
Eine andere Form, um die Wirklichkeit zu transformieren, ist im gewaltigen Werk von Giwi Margwelaschwili zu beobachten, das mit Isolation, Exil und Fremdbestimmung zu tun hat - auch das Jahrhunderterfahrungen der Diktatur. Margwelaschwili emigriert in das Reich der Fiktionen. Bei ihm werden Buchpersonen lebendig und wehren sich gegen das ihnen "textologisch" zugedachte Schicksal. In dem Roman "Muzal" geht es um eine georgische Legende oder vielmehr darum, was deren Figuren tun, wenn sie gerade nicht gelesen werden: Dann lungern sie herum wie Schauspieler in der Pause, spielen Karten, müssen aber immer zur Stelle sein, falls doch einmal plötzlich ein Leser hereinschaut. Muzal ist eigentlich nur eine Nebenfigur. Er wird gleich am Anfang erschlagen. Doch jetzt freundet er sich mit seinem Gegner an, der ihm nach alter Sitte und unveränderlicher Textvorlage die Hände abhacken soll. Gemeinsam überlegen sie, wie der ewigen Wiederholung des immer gleichen Schreckens zu entkommen wäre. In seinem neuen Roman "Officer Pembry" ist das Verfahren ähnlich. Diesmal geht es darum, das Leben jenes Polizeibeamten zu retten, der im "Schweigen der Lämmer" vom fliehenden Hannibal Lecter durch einen Biss ins Gesicht getötet wird.
Margwelaschwilis fantastische Romanwelt ist nur zu begreifen, wenn man seine Lebensgeschichte kennt. 1927 wurde er in Berlin als Sohn georgischer Emigranten geboren. Sein Vater war erbitterter Gegner der Bolschewisten. 1946 wurde er nach Ostberlin gelockt und festgenommen, Giwi mit ihm, in Sippenhaft. Der Vater wurde erschossen, Giwi inhaftiert und anderthalb Jahre später nach Georgien zwangsausgesiedelt. Er war ein Exilant in der eigenen Heimat, der kein Wort Georgisch konnte. Hier entstand, abseits jeder Veröffentlichungshoffnung, in 40 Jahren ein deutschsprachiges Werk, das keine Schubladen, sondern Schränke füllt. Es sind Texte, die von Migration nicht nur erzählen. Ihr Schicksal ist ihnen bis in die neu zu erfindende, eigenwillige Kunstsprache hinein eingeschrieben.
Seit 1987 lebt Margwelaschwili wieder in Berlin. Doch der Markt geht mit ihm ähnlich ungnädig um wie einst die Zensur. Seine Bücher verkaufen sich schlecht, denn es ist nicht ganz leicht, sich in diesen Buchwelt-Kosmos hineinzufinden. Das meiste ist immer noch unveröffentlicht. Vielleicht ist es aber auch noch zu früh für diese großen Metaphern auf das fremdbestimmte Leben. Noch überwiegen Verdrängung und Schweigen. "Diese heimliche Übereinkunft", schreibt Kadare, "wurzelte wahrscheinlich tief in der Geschichte, in Zeiten, als der Instinkt der Menschen noch sagte, welche der Ereignisse, die sie schreckensstarr erlebten, man besser der Vergessenheit anheimgab und welche man in düsteren Balladen besang." Es gibt allerdings auch heute schon genug Lesestoff für Berliner Schüler, falls sie eines Tages doch etwas über Kommunismus und Diktatur erfahren wollen.
Drago Jancar: "Der Wandler der Welt. Der Mythos von Dädalus". Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Berlin Verlag, Berlin 2007, 172 S., 16 Euro Ismail Kadare: "Spiritus". Aus dem Albanischen von Joachim Röhm. Ammann Verlag, Zürich 2007, 292 S., 19,90 Giwi Margwelaschwili: "Officer Pembry". Verbrecher Verlag, Berlin 2007, 160 S., 19,90 Euro
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