piwik no script img

Ewiger EU-Anwärter TürkeiImmer noch vor Brüssel

Die Beitrittverhandlungen zwischen EU und Türkei stagnieren vor sich hin. Die gegenwärtige Krise in der Türkei könnte diesem Prozess den Rest geben.

EU und Türkei - eine Annäherung im Schneckentempo. Bild: ap

BRÜSSEL taz Nachdenklich klopft Haluk Nuray auf den dicken Dokumentationsband, der vor ihm auf dem Schreibtisch liegt. Seit 17 Jahren leitet der jugendlich wirkende Mittfünfziger das Brüsseler Büro der Economic Development Foundation, eines Dachverbands der türkischen Unternehmerverbände, Banken und Handelskammern. Das dicke Buch, in dem eine Menge Arbeit steckt, hätte eigentlich als Rezeptbuch dienen sollen. Es beschreibt, wie sich die zwölf Kandidaten der letzten Erweiterungsrunde auf den Beitritt vorbereiteten.

"Inzwischen weiß ich, dass solche Vergleiche nichts bringen", seufzt Nuray. "Jedes Land ist anders." Günstige politische Umstände hätten es ermöglicht, zehn Länder auf einmal in die Europäische Union aufzunehmen. "Kein Land hatte die Kriterien zu hundert Prozent erfüllt. Auch vier Jahre später sind die meisten noch nicht wirklich beitrittsreif, aber es gab den politischen Willen, sie zu integrieren. Dieser Wille fehlt für die Türkei."

Betrachtet man den inzwischen 45 Jahre währenden Zickzackkurs der EU gegenüber der Türkei, muss man ihm zustimmen. 1963 wurde das Assoziierungsabkommen mit Türkei unterzeichnet. Zwei Jahre später entstand in Istanbul die Economic Development Foundation, finanziert von Geschäftsleuten, die sich vom Beitritt zur EU Aufschwung und Reformen erhofften. 1984 entstand das Brüsseler Büro der Organisation, aber erst 1999 wurde die Türkei als Kandidatenland anerkannt. Weitere fünf Jahre später einigten sich die EU-Mitglieder darauf, im Oktober 2005 mit den Beitrittsverhandlungen zu beginnen.

Seither geht es im Schneckentempo voran. Zwei Verhandlungskapitel werden pro Präsidentschaftshalbjahr eröffnet, acht Kapitel sind es bisher insgesamt. Im Dezember 2006 setzten die Staats- und Regierungschefs acht Verhandlungskapitel so lange aus, bis die Türkei zyprischen Schiffen und Flugzeugen den Zugang zu den türkischen Häfen und Flughäfen gestattet. Nur das Kapitel Wissenschaft und Forschung - ein Gebiet, in dem die EU kaum Kompetenzen hat - wurde provisorisch geschlossen. Kroatien hingegen hat in seiner kurzen Bewerbungszeit bereits 20 Kapitel eröffnet und zwei provisorisch abgeschlossen. Beobachter gehen davon aus, dass das Land schon im kommenden Jahr EU-Mitglied werden könnte.

Als die Iren Mitte Juni den Lissabon-Vertrag platzen ließen, meldeten sich prompt Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy zu Wort, um daran zu erinnern, dass neuerliche Erweiterungen ohne Vertragsreformen nicht möglich seien. Ähnlich äußerte sich auch Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker. Kroatien aber sei von diesem Junktim nicht betroffen, betonte sein Außenminister Jean Asselborn.

Haluk Nuray und seine Mitarbeiterinnen stehen in ständigem Kontakt mit den Fraktionen im EU-Parlament und mit der Abteilung von EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn. Sie malen kein rosiges Bild von der aktuellen Entwicklung in ihrem Heimatland. Der Reformprozess habe sich im Vergleich zur Aufbruchstimmung des Jahres 2003 deutlich verlangsamt, in einigen Bereichen gebe es Rückschritte. "Schauen Sie sich die politischen Eliten an", sagt Nuray. "Nehmen Sie den Staatspräsidenten, die Minister - die Ehefrauen tragen alle Kopftuch. Sie können heute in der Türkei keine politische Karriere machen, wenn Ihre Frau das Haar offen trägt." Es werde mindestens bis zum Jahr 2020 dauern, bis die innenpolitische Krise überwunden und der Beitrittsprozess abgeschlossen sei.

Doch Sarkozys Versuch, die Türkei mit einer privilegierten Partnerschaft abzuspeisen, betrachtet Nuray als Kriegserklärung. "Wir erklären unseren französischen Geschäftspartnern, dass die Menschen bei uns darüber sehr aufgebracht sind. Sie fangen schon an, französische Waren zu boykottieren," warnt er und hofft, dass die Botschaft nach oben weitergereicht wird. Schließlich hat Sarkozy ein offenes Ohr für die Sorgen seiner Unternehmerschaft.

DANIELA WEINGÄRTNER

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!