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Archiv-Artikel

Eurythmie und Eigeninitiative

Naturerlebnisse, handwerkliche Arbeit, projektbezogener Epochen-Unterricht zu Drogenkonsum und Straßenkindern und Gruppengefühl: In Brandenburg setzen Einrichtungen der Jugendhilfe auf Elemente der Waldorfpädagogik – und haben Erfolg

VON CHRISTOPH RASCH

„Schottische Hochlandrinder!“ Der ältere Herr mit dem gedeckten Dreiteiler und dem weichen Akzent zeigt stolz auf die Stallungen. Ortstermin auf einem Ökohof in Brandenburg. Malcolm Hope, gebürtiger Schotte und ausscheidendes Mitglied der Schulleitung der Potsdamer Waldorfschule, ist hinausgefahren ins Dörfchen Rädel.

Der Demeterhof, 50 Kilometer südwestlich von Berlin, ist Teil einer Wohn- und Betreuungseinrichtung für Jugendliche, die, so Hope, „woanders Schulverweigerer genannt werden“. Das Besondere: Die „Alte Ziegelei Rädel“ und ihr Hofgut sind quasi Außenstellen von Hopes Waldorfschule. Gelegentlich nimmt der 63-Jährige hier noch Prüfungen ab, besucht seine entsandten Kollegen – oder eben die „vollstationär“ betreuten Jugendlichen. Wie Peter aus Rostock.

Der 17-Jährige ist seit gut anderthalb Jahren in Rädel, füttert Kühe, sortiert Getreide oder mistet den Hühnerstall aus. Hope trifft ihn zum kurzen Plausch am Gatter. Peter erzählt von früheren Problemen in Familie und Schule – und davon, dass er jetzt über eine Ausbildung nachdenkt: „zum Landwirt.“

„Auch bei Peter war abzusehen, dass er ohne Hilfe irgendwann im Knast landen würde“, sagt Waldorfpädagoge Erwin Roth, zugleich Leiter der Einrichtung in Rädel. Jungs wie Peter können dem Unterricht vielleicht ein halbes Jahr folgen, „dann brauchen sie erst mal eine ‚Denkpause‘ “, erzählt Roth, „und arbeiten derweil ein paar Monate auf dem Hof“. Positiver Nebeneffekt: „Wenn harte Kerle aus Neukölln hier melken lernen“, sagt er, „lernen sie auch, auf ganz neue Art Verantwortung zu tragen.“

Gemeinsam mit Malcolm Hope suchen wir Peters Klassenkameraden – und finden sie im Musikzimmer des renovierten Ziegeleikomplexes: Sechs große Jungs hocken da im Schneidersitz – klatschen und trommeln auf dicke Hölzer. Hassan soll einen neuen Takt vorgeben: „Mir fällt nix ein“, stammelt er, improvisiert dann aber – und die Gruppe reagiert auf seinen Rhythmus: Eine Art „We Will Rock You“ im Waldorfsound.

Nicht nur musikalisch: Die Gruppe gibt Selbstsicherheit – und manch einer wächst dabei über den hier angebotenen Hauptschulabschluss hinaus. Ein Dutzend Jugendlicher aus Rädel hat die Schulkarriere fortgesetzt, an der Waldorfschule in Potsdam Waldstadt. Die feiert übrigens derzeit ihr 15-jähriges Jubiläum – und ihr sogenanntes Potsdamer Modell gleich mit.

Dieses in Deutschland ziemlich einmalige Pilotprojekt, in dem eine Waldorfschule mit eigenem Personal und eigenen Lehrmethoden in Jugendhilfe- Einrichtungen aktiv wird, ist Teil des Lebenswerks von Malcolm Hope. Der steht heute kurz vor dem Ruhestand.

Nach sieben Lehrjahren in Potsdam Zeit für einen Rückblick: „Wir hatten damals die Wahl, eine nette Zwergschule zu bleiben – oder neue Wege zu gehen“, sagt Hope. Individuelle Projekte und Präsentationen gehören seither ebenso zum Unterricht wie das „bewegte Klassenzimmer“, wo statische Tischordnung und fester Themenkanon aufgebrochen werden.

Die jüngste Station auf dem Weg des Potsdamer Modells findet sich seit ein paar Monaten in Groß-Glienicke. Wir steigen mit Malcolm Hope ins Auto und landen nach einer guten halben Stunde Fahrt in den liebevoll renovierten Baracken von „Par-ce-val“.

„Durch das Tal“ – wie im wortspielerischen Namen – sind viele der Jugendlichen gegangen, die sich hier im Kreis gegenübersitzen. Par-ce-val, vor sieben Jahren gegründet als Einrichtung für minderjährige Drogenkonsumenten, gibt diesen nun einen festen täglichen Rhythmus vor: Nach der morgendlichen „Arbeitstherapie“ im Wald gibt es eine „Reflexionsrunde“.

Auf Strümpfen sitzen sich die Jungen und Mädchen im Kreis gegenüber – und üben Selbstkritik: „Mit der Schubkarre war ich ein bisschen langsam“, sagt der 15-jährige Udo. „Und Toni, was ist mit dir los? Irgendwas kotzt dich doch an“, will Dirk Schreiber wissen. Auch der 44- jährige Lehrer für Deutsch und Geschichte kommt von der Potsdamer Waldorfschule.

„Wenn die Jugendlichen bei uns landen“, sagt Schreiber später, „haben sie die Schule schon reichlich satt.“ Ein „Schulvertrag“ verlangt von den Jugendlichen ein gewisses Bemühen – auch in Groß-Glienicke setzt man auf Waldorfpädagogik: auf die Eigeninitiative der Kids ebenso wie auf Eurythmie, Kunsttherapie und Hauswirtschaft.

Die Schüler haben wie jeden Tag gekocht, fassen sich an den Händen und wünschen sich gesittet „Guten Appetit“. Rituale wie diese geben Struktur. „Wir müssen ihnen eine Ordnung vermitteln“, sagt Schreiber, „und Waldorfregeln erscheinen mir oft als der erfolgreichste Weg, diese Jugendlichen zu erreichen.“

„Daneben hilft die Kontinuität des mehrwöchigen Epochen-Unterrichts, eine stärkere Beziehung zwischen Lehrer und Schüler aufzubauen“, sagt Malcolm Hope nach dem Essen. Auch der anschließende Projektunterricht zählt dazu.

Zwei der Mädchen von hier bereiten sich derzeit in Potsdam aufs Abitur vor – kleine Lichtblicke der pädagogischen Arbeit, aber noch Ausnahmen. Denn, ob hier bei Par-ce-val oder in der Ziegelei in Rädel: Auch Waldorfpädagogen müssen im Jugendhilfe-Alltag beharrlich und dickfellig sein wie schottische Hochlandrinder.