Eurorettung: Das Vielleicht-Gefühl
Es geht um Billionen Euro, und keiner weiß, ob die reichen: Viele Menschen entwickeln angesichts der Schuldenkrise eine diffuse Ängstlichkeit.
Amelia Düwel sitzt im randvollen Auditorium Maximum der Humboldt-Universität und wartet auf nichts weniger als eine Großtat. "Eine offenes klares Statement zu der Situation" würde sie gerne von dem Redner hören. Der Redner an diesem Montagabend ist Jean-Claude Trichet, der scheidende Chef der Europäischen Zentralbank (EZB). Die Situation, von der Düwel spricht, ist die wahlweise als Schulden-, Finanz-, Europa- oder Wirtschaftskrise bezeichnete aktuelle Lage der EU.
Über eine mögliche Lösung für die Krise stimmt am heutigen Mittwoch der Deutsche Bundestag ab. Es ging im Vorfeld lange um Hunderte Milliarden Euro. Inzwischen ist von zwei Billionen Euro die Rede, die als sogenanntes Rettungspaket für die finanzielle Stabilität mehrerer EU-Länder, darunter Griechenland, sorgen sollen. Summen, angesichts deren Größenordnung selbst Wirtschaftsexperten schwindlig wird. Deswegen wirkte die Debatte darüber auch so verwirrend: Erst vor einem Monat hatte das deutsche Parlament einem anderen Rettungspaket zugestimmt. Kurz darauf schon überboten sich zahlreiche Staats- und Regierungschefs mit neuen Ansätzen und Forderungen. Das Chaos war perfekt.
"Beängstigend" findet Amelia Düwel, Jura-Studentin im ersten Semester, die Lage. Dass in Europa einmal Staaten vor dem Bankrott stehen würden, hätte sie nie für möglich gehalten. Gleichzeitig betont sie: "Persönlich habe ich keine Angst." Wie sie empfinden auch andere Zuhörer im Saal, ein Großteil davon Studierende plus viele Ehrengäste. Das Wort "vielleicht" trifft diese Empfindung gut: etwas mehr pessimistisch als optimistisch. Zurückgezogen, aber nicht abgewandt. Fragend, ohne eine Antwort zu erwarten. Verwirrt, aber neugierig. Oder eben verängstigt, ohne Angst zu haben.
Trichet, der unabhängige Zentralbänker, soll an diesem Abend Ordnung in das "riesige Durcheinander" bringen, wie es eine Sitznachbarin von Amelia Düwel beschreibt. Es wird ihm - so viel sei verraten - nicht gelingen.
Und selbst wenn, wäre es wohl nur ein kurzzeitiger Erfolg gewesen. Denn dass die Schuldenkrise mit dem am heutigen Mittwoch ebenfalls stattfindenden Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs endlich vorbei ist, glauben immer weniger Menschen. Eine am vergangenen Freitag veröffentlichte Untersuchung des Eurobarometer mit dem Titel "Die Europäer und die Krise" belegt dies. Und wer in Berlin herumfragt, erhält ähnliche Ergebnisse.
Etwa bei jenen, die Veränderungen gerne in Zahlen fassen. Die Industrie- und Handelskammer (IHK) zum Beispiel. Ihr Berliner Sprecher Bernhard Schodrowski drückt sich anfangs vorsichtig aus, in einer Variation des Vielleicht-Gefühls: "Die Erwartungen für die Zukunft in der Berliner Wirtschaft sind leicht eingetrübt. Investitionen werden vorsichtiger geplant." Der von der IHK erhobene Konjunkturklimaindex ist im September auf 127 Punkte gesunken, gegenüber dem Mai 2011 ein Minus von zwölf Punkten. Das ist deutlich - und wird als Beleg angesehen, dass Wirtschaft zu einem guten Teil Psychologie ist.
Und die Last der Krise wiegt schwer. "Selbst für die Experten von der IHK sind die Geldbeträge, die im Zuge der Schuldenkrise von Politikern genannt werden, Riesenbrocken", betont Schodrowski. So etwas sei noch nie dagewesen. "Wir - und auch die Unternehmer in der Stadt - beobachten das mit großer Sorge. Alle hoffen, dass es gut läuft." Doch die Botschaften der Politiker ließen leider nicht darauf schließen, dass bald Ruhe einkehren würde. Das ist noch etwas deutlicher.
Auch jene, die Gefühle explizit nicht in Zahlen fassen wollen, sprechen von einer "diffusen Ängstlichkeit", die zunehme, gerade in gebildeten Schichten. Christina-Maria Bammel ist evangelische Pfarrerin der Sophienkirche. Zu ihrer Gemeinde gehörten viele Unternehmer und Menschen, die im Kreativbereich tätig sind, sowie zahlreiche Familien. "Es bleibt, trotz des hohen Bildungsniveaus, trotz der Lektüre vieler Zeitungen, ein diffuses Gefühl des Nichtwissens und eine Sehnsucht nach Überschaubarkeit", hat Bammel in ihrer Gemeinde festgestellt. Seit zwei Jahren ist sie Pfarrerin in Mitte. "Und ich sehe, dass dieses Gefühl zugenommen hat." Es sei allerdings nicht so, dass sich aus diesen Ängsten ein "unmittelbares Handeln" entwickle.
Vielleicht, weil die Auswirkungen der Finanzkrise bei vielen Menschen persönlich bisher nicht angekommen sind, vermutet Jan Roessel. Deswegen würden sie sich nicht konkret damit beschäftigen. Roessel kümmert sich für den Verein Deutsche Gesellschaft um politische Bildungsarbeit. Die überparteiliche NGO, die in 15 Ländern Europas aktiv ist, organisiert Vorträge, Seminare, Diskussionen und sie betreibt das "Europäische Informationszentrum Jean Monnet" in der Voßstraße nahe des Potsdamer Platzes.
Dort würden Besucher natürlich auch Fragen stellen zur Schuldenkrise, berichtet Roessel. "Meist sind diese Fragen aber überraschend unkonkret." Er sieht darin einen Beleg, dass viele die komplexe Materie nicht überblicken würden. "Wir beobachten im Rahmen unserer politischen Bildungsarbeit eine große Unsicherheit und ein diffuses Unbehagen, gerade auch bei Leuten, die sich viel mit den Thema Europa beschäftigen."
Roessel gibt die Schuld daran zumindest teilweise der Politik. "Die Politiker in Europa müssen deutlich machen, dass sie gemeinsam eine Lösung anstreben." Die widersprüchlichen Aussagen einiger Staats- und Regierungschefs in letzter Zeit seien dabei ein Hindernis, und sie würden bei den Bürgern für Verwirrung sorgen. Denn: "Die wollen wissen: Wer löst die Krise? Unsere Antwort ist: Die Europäische Union gemeinsam, nicht Vertreter einzelner EU-Mitgliedsstaaten."
Dass Roessel so vehement auf einen klare Linie drängt, hat auch ein bisschen mit seiner Arbeit zu tun: "Wir kommen kaum nach, diese neuen Informationen aufzuarbeiten und zu vermitteln. Die schnelle Nachrichtenentwicklung derzeit ist eine echte Herausforderung."
Im Audimax der HU trägt Jean-Claude Trichet am Montagabend auch etwas zur Nachrichtenentwicklung bei. Er fordert - auf mittlere Frist - eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit, härtere Sanktionen gegen Länder, die die selbst gesteckten Haushaltskriterien wiederholt nicht einhalten, und neue europäische Institutionen: "Es scheint mir nicht zu kühn zu sein, über ein europäisches Finanzministerium nachzudenken, sondern eher zu gewagt, sich keine Gedanken über die Schaffung einer solchen Institution zu machen", sagte Trichet in seiner knapp 45-minütigen Rede.
Amelia Düwel ist an deren Ende enttäuscht. Etwas "oberflächlich" sei der Vortrag gewesen; der scheidende EZB-Präsident sei leider nicht auf die aktuelle Situation eingegangen. Und nun? Sie werde sich weiter über die EU-Krise informieren, sagt die Jurastudentin, und vor allem: einfach abwarten. Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: "Und wenn der Euro scheitern sollte, dann scheitert er halt. Brot wird es weiterhin zu kaufen geben."
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