: Europäischer Gerichtshof: Mordende Kinder sind Kinder
Prozess gegen die jungen Mörder des kleinen James Bulger in England unfair, findet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte: Kinder gehören vor kein Erwachsenengericht
Dulbin (taz) – Der Prozess gegen zwei Kinder, die 1993 im englischen Liverpool gemeinsam einen Zweijährigen umgebracht hatten, war „unfair“. Das entschied gestern der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und sprach ihnen die Verfahrenskosten von 50.000 Pfund zu.
Robert Thompson und Jon Venables waren zehn Jahre alt, als sie den kleinen James Bulger aus einem Einkaufszentrum im Liverpooler Stadtteil Bootle entführten, während seine Mutter in einem Fleischerladen anstand. Sie liefen mit ihm fast fünf Kilometer zum Eisenbahndamm in Walton, ihrem Wohnort, wo sie ihn mit Ziegelsteinen bewarfen, mit einer Eisenstange schlugen und ins Gesicht traten. Insgesamt brachten sie ihm 42 Verletzungen bei, bevor sie ihn auf die Schienen legten. Zu dem Zeitpunkt war James Bulger vermutlich bereits tot. Am nächsten Morgen zerfetzte ein Güterzug die Leiche. Sechs Tage später kam die Polizei Thompson und Venables auf die Spur.
Der Mord löste eine Woge der Wut und Abscheu in England aus. Der Polizeibeamte, der die Untersuchung geleitet hatte, bezeichnete die beiden Kinder als „Monster“, die Presse sprach von „Bestien“. Thompsons Mutter musste aus Walton wegziehen. Der Prozess fand in Preston statt, 80 Kilometer vom Tatort entfernt, weil aufgebrachte Menschen in Liverpool den Polizeiwagen, in dem Thompson und Venables zum Haftrichter gefahren wurden, mit Steinen beworfen hatten.
Die Geschworenen sahen es als erwiesen an, dass Thompson und Venables vorsätzlich gehandelt hatten und für ihre Taten voll verantwortlich waren. Sie wurden zu Freiheitsstrafen von unbestimmter Länge verurteilt. Sie waren damit die jüngsten verurteilten Mörder in England seit 250 Jahren.
Dies an sich halten die Straßburger Richter nicht für gesetzwidrig. Zwar hat England mit zehn Jahren eine der niedrigsten Altersgrenzen für Strafmündigkeit, doch sie weiche nicht unverhältnismäßig von anderen Ländern ab, so das Gericht. Dagegen monierte das Gericht unter Vorsitz des Schweizer Richters Luzius Wildhaber, dass der damalige Innenminister Michael Howard die Mindeststrafe auf 15 Jahre festlegte. Dadurch sei die Trennung von Exekutive und Judikative nicht gegeben. Die britische Regierung muss dieses Verfahren ändern.
Außerdem stellte der Gerichtshof fest, dass Thompson und Venables dem 13-tägigen Prozess, der vor einem Gericht für Erwachsene verhandelt wurde, nicht hätten folgen können. Sie waren so verängstigt, dass sie nicht einmal mit ihren Anwälten sprachen. Auch in diesem Fall muss die Londoner Regierung dem Urteil unverzüglich folgen: Kinder dürfen nicht mehr vor Erwachsenengerichten angeklagt werden.
Labour-Innenminister Jack Straw betonte gestern, das Straßburger Urteil entlaste Thompson und Venables weder, noch ordne es ihre vorzeitige Entlassung an. Rechtsexperten erwarten jedoch, dass sie schon in wenigen Jahren freikommen. Das befürchtet auch Denise Fergus, die Mutter des ermordeten James Bulger. Sie sei über das Urteil sehr enttäuscht, sagte sie und forderte die britische Regierung auf, in Berufung zu gehen. Ralf Sotscheck
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