■ Europäische Einigung bei mangelnder Aussprache: Maaaaaaaastricht
Gesucht wird ein aktueller politischer Begriff. Ganz einfach: Was fällt Ihnen ein zum Stichwort „Verträge“? In Europa in aller Munde seit Monaten? Eine Stadt im Süden der Niederlande kommt darin vor... Referendum in Frankreich? Das Nein der Dänen zu den — richtig, sagen Sie es jetzt: zu den Maastrichter Verträgen. Doch halt: Das ist falsch. Die Stadt heißt Maastricht, das Abkommen der EG-Chefs folglich Maastrichter Verträge. Kein Niederländer würde jemals Maastricht sagen. Selbst der deutsche Duden verlangt unmißverständlich: Betonung auf der zweiten Silbe, also: Maastricht.
Aber es ist ein Phänomen: Landauf, landab sagen alle Maastricht. Von Anfang an, und kaum einer oder eine ist lernbereit.
Der Kanzler genausowenig wie seine europabegeisterte Ministerriege oder die kritische Opposition und geschätzte acht bis neun von zehn Radiosprechern und Fernsehkommentatoren. Sie fabulieren stets von den Maastrichter Verträgen.
Es geht um die vielbeschworene europäische Einigung: nationalismenüberwindend, grenzenniederreißend, völkervereinend, zukunftsträchtig — und alle, fast alle, scheitern schon an dem Begriff, der dieses Vorhaben symbolisiert. Maastricht bleibt ihnen Maastricht, deutsche Aussprache bleibt deutsche Aussprache. Toleranz und Lernfähigkeit bleiben an den Nationalschranken zurück — ob in Osnabrück, in Saarbrücken, in Salzgitter oder Heilbronn.
Doch schelten wir nicht immer nur die Deutschen. Blicken wir — ganz Europäer, die wir sind — über die Grenzen hinweg, und wir hören: Auch John Major glaubt an Maastrict, genauso wie Francois Mitterrand an Maastrischte. Was würden die Politiker wohl sagen, wenn wir den deutschen Bundeskanzler plötzlich Helmut Kohl rufen würden, Herkunft Oggersheim, oder wenn wir von John Major oder Mitterrand sprächen?
Egal. Nehmen wir zur Kenntnis, was offensichtlich und offen hörbar hinter diesen Fehlern liegt: die wahre europäische Einigung. Ja, die Diagnose lautet: Das Phänomen der Mißachtung zeugt von bestechendem europäischem Gemeinsinn. Wir erleben die Einigung aller europäischen Ignoranten im Maastrichter Geist. Keine Gegenstimme, kein Referendum, kein dänisches Nein. Europa lebt, gemeinsam, einheitlich, fortschrittsbewußt — in Maastricht, und sonst nirgendwo. Bernd Müllender
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