■ Ethnische Politik als Folge rassistischer Gewalt: „Offene Suche“ – schon verspielt?
Mit der Welle der Gewalt, die in den letzten Wochen gegen den Turko-Deutschen Bevölkerungsteil ausbrach, ist eine neue Stufe der rassistischen Ausschreitungen erreicht: alle hier lebenden Turko- Deutschen sind mit der Tatsache konfrontiert, daß es in der BRD keine sicheren Räume mehr für sie gibt. Sie sind in Gefahr, nur, weil sie türkischer Abstammung sind. Dies hat einschneidende Konsequenzen für ihr Selbstverständnis.
Die zweite Generation der hier lebenden Türken sind die Kinder von Einwanderern wider Willen. Die meisten von ihnen wuchsen in dem Widerspruch von Rückkehrorientierung der Eltern und faktischer Verankerung in die hiesige Gesellschaft auf. Bereits diese Konstellation sorgte für ein Spannungsverhältnis, das schon dann schwierig zu lösen gewesen wäre, wenn für die jungen Immigranten die Möglichkeit bestanden hätte, einen positiven Bezug zur deutschen Gesellschaft aufzubauen. Wenn sie sich hier hätten heimisch fühlen können, hätten sie unbefangener und offener in die unausweichliche Auseinandersetzung mit den Eltern gehen können. Die Unwirtlichkeit der deutschen Gesellschaft ließ dies aber nicht zu. So legte sich ein zweiter Widerspruch über den ersten: Einerseits war Deutschland der Ort, der sie geprägt hat, wo sie leben (und den sie auf eine verhaltene Art schätzen); zum anderen war es der Ort, an dem sie von der Majorität als Fremde, als Nichtzugehörige, behandelt wurden.
Auf diesem Hintergrund haben die meisten Angehörigen der zweiten Generation versucht, eine Perspektive für sich zu entwickeln, die man als Individuierung aus der Negation charakterisieren könnte. Damit meine ich eine tentative, vorsichtige Art der Selbstverortung, die eher ausdrückt, was man nicht ist, als was man ist. Damit einher geht das Beharren auf einen individuellen Weg zwischen diesen Widersprüchen. In diesem Feld wurde (und wird) jede positive Zuschreibung als eine unzumutbare Festlegung empfunden. Gleich empfindlich reagieren daher etwa viele Deutsche türkischer Herkunft, wenn man sie auf eine der Dimensionen festlegt, sie entweder unter „Türken“ subsumiert („Du als Türke“) oder ihnen das „Türkisch-Sein“ abspricht („Du bist doch schon kein Türke mehr“): Sie sind beides, und sie sind keines; und sowohl die Zuschreibung wie auch das Absprechen einer nationalen Identität wirkt daher gewaltsam – wie ein ungeduldiges Auflösen von Widersprüchen, die nicht angenehm sind, die aber ausgehalten werden müssen, weil die Alternative nur die Verdrängung und Abspaltung des einen oder des anderen Teiles wäre. Dieser Prozeß der Suche spielt sich auf allen Ebenen ab. Er läßt sich erkennen in dem Verhalten junger Frauen, die sich durch geschickte Strategien zwischen den konfligierenden Rollenzuschreibungen durchlavieren; er zeigt sich ebenfalls in den sich herausbildenden Jugendkulturen, die sowohl gegen die Elternhäuser, wie gegen die deutsche Mehrheitsgesellschaft rebellieren. Die turko- deutschen Autoren und Sozialwissenschaftler haben daran gearbeitet, diesen verschachtelten Prozeß zur Sprache zu bringen. Bei ihnen lassen sich die Chancen, die ein derart offenes, die Festlegung vermeidendes und deshalb tastendes und suchendes Verhältnis sowohl zur deutschen wie zur türkischen Kultur bietet, am deutlichsten ablesen – man lese nur Zafer Șenocaks Essay1. Die deutsche Gesellschaft hat bislang die Chance nicht realisiert, die eine derartige offene Suche bietet. Dabei ist der kulturelle Gewinn nur die eine Seite. Wichtiger ist, daß die Haltung großer Teile der zweiten Generation die Chance bietet, ein offenes multikulturelles Zusammenleben zu realisieren, beziehungsweise zu vermeiden, daß aus der multikulturellen Gesellschaft ein Alptraum wird. Die deutsche Gesellschaft ist auf dem besten Weg, diese Chance ein für allemal zu verspielen. Alles läuft im Augenblick darauf hinaus, daß eine geschlossene multikulturelle Gesellschaft entsteht – eine Gesellschaft in der Ethnizität zur entscheidenden Kategorie wird. Nichts wirkt so ethnisierend wie rassistische Gewalt. In der durch sie ausgelösten Angst erleben die Turko-Deutschen auf eine existentielle Weise die Festlegung auf den türkischen Aspekt ihrer Identität. Sie müssen Angst haben, weil sie Türken sind – und nur weil sie Türken sind. Damit wird auf eine perfide Weise die Erfahrung der Festschreibung radikalisiert. Der schwierige, in sich widersprüchliche Prozeß des Aufbaus einer Perspektive in Deutschland droht damit gekippt zu werden. Das tentative Abwägen, das Suchen dürfte einer zunehmenden Zahl von Angehörigen der zweiten Generation als vergeblich, sinnlos oder gar selbstzerstörerisch erscheinen – weil ihm doch kein Erfolg beschieden ist. Als sicherer und erfolgversprechenderer Weg könnte nun die ethnische Politik wirken, nicht mehr die individuelle Suche, sondern die kollektive Forderung; nicht mehr die abwägende Distanzierung zur ethnischen Herkunft, sondern die Identifikation mit ihr.
Die Folge ist in der Regel eine symbolische Politik. In einer solchen Politik wird eine dialogische, an der Sache orientierte Entscheidungsfindung schwierig, wenn nicht unmöglich. Diese Gefahr, die daraus für die Kultur der civil society erwächst, läßt sich am besten durch die Rechtsprechung verdeutlichen (ist aber nicht auf sie beschränkt). In einer durch ethnische Politik charakterisierten Atmosphäre gibt es die Tendenz, Urteile als Zeichen zu bewerten – sie vom konkreten Sachverhalt abzulösen und sie als Entscheidung für oder gegen eine ethnische Gruppe zu werten. Als Beispiel mag der Prozeß gegen die vier Polizisten in Los Angeles dienen, bei dem das erste Urteil zum Ausbruch der Unruhen führte – und bei dem aus Staatsraison ein zweites, rechtsstaatlich problematisches Urteil durchgesetzt wurde.
Joan Didion2 hat in bezug auf New York beschrieben, wie es in einer von ethnischer Gewalt charakterisierten Atmosphäre fast unmöglich wird, auch noch über die elementarsten Sachverhalte einen Konsens zu erzielen. Über die Einschätzung einer grauenhaften Massenvergewaltigung ließ sich keine Einhelligkeit zwischen den ethnischen Gruppen herstellen, weil sie von den unterschiedlichen Gruppen sofort als Zeichen gewertet wurde. Für die afroamerikanische Bevölkerung reihte sie sich ein in die traumatisierende Erfahrung der Lynchjustiz; für die weiße Bevölkerung in die Angst, daß die Afroamerikaner die Stadt übernehmen. Jedes Urteil birgt das Risiko der Gewalt.
Wie nahe wir einer derartigen Situation gekommen sind, zeigt der Prozeß von Mölln. Ich bin mir nicht sicher, ob gegen die Angeklagten ein fairer Prozeß möglich ist. Durch die erneut aufgeflammte rassistische Gewalt sind wir in eine Situation geraten, in der ein Freispruch (der unter Umständen auf Grund einer schlampigen, staatsanwaltlichen Ermittlung geboten sein könnte) als Urteil für den Rassismus verstanden werden wird. Werner Schiffauer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen