Esther Slevogt betrachtet das Treibenauf Berlins Bühnen:
Es fängt symbolträchtig mit der Geburt des Messias an. Weihrauch wabert, dazu donnert bedeutungsschwanger sakrale Musik – von Johann Sebastian Bach zum Beispiel. Maria zählt unter heftigsten Wehenschmerzen und -zuckungen im Rotlicht die heilige Ahnenkette ihres Kindes, des gerade ankommenden Messias auf. Abraham, Isaak und so weiter. So atmosphärensatt beginnt das „1. Evangelium“, das der Regisseur Kay Voges ursprünglich am Schauspiel Stuttgart und frei nach Pier Paolo Pasolini inszenierte. Nun kommt der Abend als Gastspiel an die Volksbühne. Dort könnte die heilige Ahnenreihe dann freilich auch aus Erwin Piscator, Benno Besson und Frank Castorf bestehen. Denn auch am Rosa-Luxemburg-Platz wird aktuell ein Messias gesucht, der dem Theater Erlösung vom Unheil bringt, das die unfähige Berliner Kulturpolitik kürzlich über das berühmte Haus brachte. Vorerst wird hier aber auf offener Bühne erst einmal nur ein Theaterjesus geboren. Wenige Wochen vor Beginn der Weihnachtszeit. Auf eine*n Volksbühnenmessias werden wir wahrscheinlich noch warten müssen. Wenn er oder sie denn überhaupt kommt (Volksbühne: „Das 1. Evangelium“, ab 1. 11. 19.30 Uhr).
Aber natürlich wissen wir nicht, was die Zukunft bringt. Unheimlich wird es nur, wenn die Gegenwart beginnt, wie die Vergangenheit auszusehen und man fürchten muss, dass sich die Entwicklung in die falsche Richtung dreht. „Der Diktator“ ist eine Oper überschrieben, die der Komponist Ernst Krenek (1900–1991) Mitte der 1920er Jahre schrieb. Darin malte er damals schon ein Szenario aus, das wenige Jahre später Wirklichkeit werden würde: ein Diktator kommt an die Macht, dem niemand gewachsen ist und der das politische System, das ihn ausgebrütet hat, am Ende verschlingt. Die junge Regisseurin Ariane Kareev hat die vergessene „tragische Oper in einem Akt“ wieder ausgegraben und für die Neuköllner Oper inszeniert (Neuköllner Oper: „Der Diktator“, Premiere 7. 11., 20 Uhr).
„Die Verdammten“ ist ein berühmter Film von Luchino Visconti, der den Fall einer Industriellenfamilie im Nazi-Deutschland erzählt – und zwar mit shakespearschem Mords- und Untergangspotenzial. Am Berliner Ensemble hat sich der Regisseur David Bösch jetzt des saftigen Stoffes angenommen, der auch als Fallstudie einer korrumpierten Elite Parallelen zu unserer Zeit aufzuweisen hat: deren Wirtschaftskapitäne ihre Geschäfte auch mit solchen Regimen machen, die ihre Gegner in Hinterhalte locken und brutal zerstückeln lassen. Oder etwa nicht? (Berliner Ensemble: „Die Verdammten“, Premiere 3. 11., 19.30 Uhr)
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